Autorin
Sabine Ibing
Interview mit
Marc Nemitz
(von Sabine Ibing)
Marc Nemitz, bekannt als Kritiker, der jedes Haar in der Suppe
findet und in seiner eigenen amüsanten Art seine Leseerlebnisse
schildert. Kein Buch geht ohne Blessuren über den Tisch.
Marc, du betreibst den Blog Literaturasyl. Deine Buchbesprechungen
lese ich besonders gern, gebe ich zu. Sie sind erfrischend. Was
unterscheidet dich von anderen Bloggern?
http://www.literaturasyl.de/
Marc: Ein Hallo in die Runde. Warum ich mich unterscheide? Ich
denke, ich habe relativ wenig Angst verklagt zu werden und äußere
mich entsprechend ehrlich über Bücher mit allem, was unsere
schöne Sprache zu bieten hat. Gestartet wurde das Literaturasyl
1998, damals noch mit 3 Leuten und als Plattform, auf der man seine
Werke komplett online stellen konnte. Ein paar Jahre später wurde
es zu einer reinen Unterhaltungsseite mit ein bisschen von allem:
Games, tausenden Videos, Kommentare und Erklärungen zu
politischen Begriffen, sowie Witzen & Sprüchen. Mittlerweile wurde
die Seite wieder auf ein gesundes Maß geschrumpft, erscheint seit
2008 als Blog und es geht vorwiegend um Buchkritiken.
Zudem setze ich völlig unverschämt viel höhere Ansprüche an die
Autoren, wie an meinen eigenen Blog und vor allem lese ich nicht
selbst, was ich da verzapfe. Ich lese es nicht einmal Korrektur, was
mir entsprechende Hassmails und Kommentare des Öfteren
bescheinigen.
Marc: Ich habe manchmal das Gefühl, du gibst beim Lesen nebenbei
deine Eindrücke auf Papier wieder, denn die Gedanken gehen hin
und her, direkt aus dem Bauch heraus. Das macht es für mich so
lesenswert. Wie arbeitest du?
Beim Schreiben einer Rezension gehe ich eigentlich wie ein Leser vor.
Ich schreibe teilweise am Stück, teilweise tippe ich blind die Kritik
herunter, andere entstehen über Tage hinweg. Bei einigen Büchern
überschlafe ich die Sache nochmal und versuche etwas abgeklärter
zu sein. Wie auch beim Lesen schweifen an manchen Stellen die
Gedanken ab, man zieht Rückschlüsse auf andere Bücher oder ganz
selten wird man auch von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt.
Marc: Du bist gnadenlos ehrlich. Das Buch gefällt oder auch nicht.
Zitat zu einem amerikanischen Bestseller: «Der Stil ist schlecht bis
schlimm, der Inhalt wirklich bescheiden und grundsätzlich gibt es
viel, viel bessere Bücher in diesem Bereich. ... Als Fazit: Ich habe
sehr, sehr lange nicht mehr ein so schlechtes Buch gelesen!« Nicht
alle Rezensenten sind ehrlich. Manche rezensieren nur Bücher, die
ihnen gefallen, aus Rücksicht gegenüber den Autoren. Die Romane,
die ihnen nicht gefallen, bewerten sie nicht. Was hältst du davon?
Davon halte ich gar nichts, denn wie soll denn ein Autor die Finger
vom Schreiben lassen, wenn ihm niemand sagt wie schlecht er ist?
Zudem versuche ich die Kritiken zu fundieren. Autoren sind von
Natur aus von sich und ihrem Werk überzeugt und das sollen sie
auch sein, trotzdem darf man sich konstruktiver Kritik nicht
verschließen. Schriftsteller neigen dazu Schriftstücke immer nur
geneigten Leuten zu zeigen. Damit wird jede Chance auf Fortschritt
und Entwicklung zunichte gemacht. Ich könnte mich sicher gewählter
und weniger hart ausdrücken, wobei immer die Gefahr bestehen
würde, dass die Kritik auf der Strecke bleibt. Folglich gibt es kein
Wischiwaschi, sondern eine ehrliche Meinung. Letztendlich habe ich
die Weisheit nicht mit Löffeln gefuttert und biete nur einen ganz
persönlichen Eindruck an. Dieser kann angenommen, komplett
zerrissen, kritisiert oder auch vollkommen anders gesehen werden.
Ein weiterer Punkt ist meine relativ seltene Zusammenarbeit mit
Verlagen und Autoren. Ich werde also nur in den seltensten Fällen
entlohnt und muss entsprechend niemandem nach dem Mund
schreiben.
Nach welchen Kriterien suchst du Bücher aus? Welche Romane
interessieren dich?
Marc: Mein Herz gehört den großen Klassikern. In diesem Bereich
lese ich Schriftsteller für Schriftsteller komplett und lasse mich
durch die letzten 2500 Jahre treiben.
Aktuellere Werke bekomme ich teilweise von Verlagen zugeschickt,
teilweise von den Autoren direkt. Kommt aber eher selten vor, weil
gerade die Verlage etwas verstimmt auf negative Kritiken
reagieren. Ansonsten stehe ich leibhaftig in der Buchhandlung und
schaue, welche Bücher mich ansprechen. Leseempfehlungen aus
meinem Freundeskreis sind immer willkommen, wobei sich diese
nach der Lektüre dafür ggfs. rechtfertigen müssen.
Flohmärkte wecken den Jagdinstinkt in mir. Fast auf jedem
Flohmarkt findet man ganz viele Klassiker, eine Tonne
Frauenromane, Konsalik komplett und irgendwo dazwischen die eine
Perle, die ich noch nicht gelesen habe.
Marc: Wie viel Seiten gibst du einem Buch? Brichst du Bücher ab?
Wenn ja, warum? Und bewertest du auch angelesene Bücher?
Bücher werden immer komplett gelesen, wobei es bis heute eine
Ausnahme gibt: Ansichten eines Clowns ging so gar nicht und eine
Gesellschaftskritik der 50er/60er verursacht mir Höllenqualen.
Ansonsten quäle ich mich seit gut einem halben Jahr mit Ulysses ab
und werde wahrscheinlich noch einige Jahre dafür brauchen.
Was könnte dich bei einem Buch so richtig zornig machen?
Marc: Die Frage bringt mich ein wenig zum Schmunzeln, denn das
können die unterschiedlichsten Dinge sein. Eine geklaute Story, wie
oft muss es denn noch eine Romeo & Julia-Adaption geben? Wie oft
noch gibt es hier eine Scheidungsgeschichte, von der schwachen
Frau, die plötzlich aufblüht und ihren Mann steht? Thriller bei denen
das einzig spannende die Frage ist, wann mir endgültig die Augen
vor Langeweile anfangen zu bluten.
Der zweite große Bereich ist ein idiotischer Handlungsverlauf und
ein schlecht ausgedachte Szenario. Noch schlimmer kommt es nur,
wenn der Autor auch noch im Buch versucht die Handlungsweisen
der Figuren krampfhaft plausibel zu gestalten.
Ganz schrecklich sind für mich Hypebücher: Fifty Shades of Grey,
Feuchtgebiete, Harry Potter... mag ich nicht, will ich nicht, lese ich
nicht. Wenn dann: de Sade, Bukowski und Tolkien.
Es hat noch nie so viele Bücher wie heute gegeben. Der
Massendruck hat zur Verflachung des Buchmarkts geführt, meine
Meinung. Und deine? Wie findet man gute Bücher?
Marc: Pro Tag erscheinen aktuell etwas über 3000 Bücher. Der
Vielleser wird vielleicht ein Buch die Woche lesen. In dieser Zeit gibt
es 21.000 neue Werke, wovon sicherlich 20999 be...scheiden sind.
Ein guter Anfang sind natürlich Gatekeeper wie das Literaturasyl,
wenn man d'accord mit dem Kritiker liegt. Möchte man sich aber
gute Bücher selbst erarbeiten, empfehle ich als Ausgangspunkt die
ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Auf dieser Liste stehen 250 Klassiker,
die man wirklich gelesen haben sollte. Autoren die einen
ansprechen, haben meist mehrere Werke und rund um diese findet
man weitere und ähnliche Bücher. So kommt man ganz flott auf eine
Zahl von mehreren tausend guten Büchern.
Letztes deutsches Buch mit weltliterarischem Anspruch? Das Parfum
von 1985...
Marc:Was würdest du einem Selfpublisher empfehlen zu tun, bevor
er dir sein Buch zur Kritik freigibt?
1.
Ein echtes Lektorat. Nicht jemand der mal was mit Literatur
oder Deutsch studierte, nicht an Freunde, die das angeblich
auch können. Man gibt sich so viel Mühe mit einem Buch,
warum sollte es dann am Feinschliff scheitern?
2.
Gebt das Buch unkommentiert an den Menschen, der Euch am
meisten hasst, an jemanden der Euch den Dreck unter den
Fingernägeln nicht gönnt. Die sind meist ehrlich und betten
Euch nicht in Watte.
3.
Eier & Taschentücher
Du bist von Beruf Geschäftsführer & Unternehmer, hast eine eigene
Firma im Bereich IT-Consulting. Die elektronische Welt wird immer
komplizierter, überwachter. Hast du davor Angst? Kannst du uns
einen guten Roman empfehlen, der das verdeutlicht?
Marc: Nein, Angst wäre der falsche Ausdruck, es nervt mich eher. Es
mag sich zwar sarkastisch anhören, aber die Überwachung regt
mich tierisch auf, weil man mich nicht mitspielen lässt. Soll mir die
NSA doch mal ein schönes Paket mit ihren Daten schnüren und schon
bin ich wieder happy. Zudem sehe ich jetzt schon, dass ich vielleicht
noch maximal 10 gute Jahre vor mir habe, in denen ich mit der
Entwicklung schritthalten kann. Danach ist Schicht im Schacht und ich
werde mir ein neues Betätigungsfeld suchen müssen oder langsam
vor mich hinsiechen.
Der beste und einzige Roman zu diesem Thema ist 1984. Lest ihn,
atmet ihn und fürchtet Euch. Philosophisch gesehen übrigens ein
ganz spannendes Buch, denn was wäre gewesen wenn Orwell
diesen Roman nicht geschrieben hätte. Gäbe es dann überhaupt die
Bestrebungen auf die totale Überwachung?
Bei den Sachbüchern gibt es einige Literatur, die einem die eigene
Medien- und Internetwelt etwas aufklären kann: Nicholas Carr –
Wer bin ich, wenn ich online bin und Eli Pariser – Filter Bubble.
Du bist der Betreiber der Internetseite Poker-Verbot. Warst du
einmal spielsüchtig oder warum engagierst du dich gegen Spielsucht
ein?
Marc: Die Automaten hatten mich mal ein paar Jahre im Griff. Zum
Glück liegt das hinter mir, war eine verdammt teure Erfahrung. Das
große Spiel (Dostojewski), Pferde (Buk), Wetten, Würfel und Karten
haben mich nie gefixt.
2002 schwappte rollte langsam die Pokerwelle los und erreichte
nachdem Gewinn der Weltmeisterschaft durch Moneymaker ihren
ersten Höhepunkt. Poker wurde dabei weitgehend als Strategiespiel
postuliert, was ein genialer Schachzug der Spielindustrie war.
Verlierst du, bist du einfach zu schlecht, aber dass der Anteil des
Hauses so hoch ist, dass faktisch auf Dauer keiner gewinnt wird
dabei gern verschwiegen. Wir sprechen dabei übrigens von
mehreren Millionen Pokerspielern in Deutschland, die ihr Geld illegal
zum Spielen online ins Ausland schicken und dabei unzählige
produktive Stunden verschwenden. Durch das Postulat des
angeblichen Strategiespiels liegt die Suchtquote bei Poker 5x höher
wie bei jedem anderen Glücksspiel.
Letztendlich soll jeder machen, was er möchte, aber bei einer
pathologischen Spielsucht ist immer auch das soziale Umfeld:
Familie, Freunde und Arbeit betroffen. Es geht mir hier eher um die
Aufklärung der Angehörigen, dass diese sich schützen können. Der
Spieler an sich, kann sich letztendlich nur selbst aus der Scheiße
ziehen.
Poker wird in den Medien immer einseitig dargestellt, da es sich um
einen vergoldeten Scheißeeimer handelt. Wir sprechen hier von
einem 50 Mrd. €-Markt, bei dem das gesamte eingezahlte Guthaben
der Spieler durch Spielgebühren im Schnitt nach 21 Tagen beim
Portalbetreiber liegt, ergo auch neu eingezahlt werden muss. Und
dies dann in der Öffentlichkeit als Strategiespiel zu bewerben ist
schlichtweg genial. Ich hätte also viel lieber eine eigene
Pokerplattform, aber solange es verboten ist, bleibt einem nur die
Aufklärung. Die Einnahmen der Seite werden übrigens zu 100% an
entsprechende Einrichtungen gespendet.
Welche drei Bücher haben dich in den letzten drei Jahren so richtig
begeistert? Welchen druckfrischen Roman würdest mir raten zu
lesen und von welchem soll ich lieber die Finger lassen?
Marc: Operation Zombie feier ich ab, Boatpeople flashte mich und
Die Straße der Ölsardinen versöhnte mich Gott sei dank mit
Steinbeck.
Shades of Schei... lies die 120 Tage von... und dann komm darauf mal
irgendwie klar.
Ich danke dir, dass du dir Zeit genommen hast, meine Fragen zu
beantworten.
Marc: Ich bedanke mich für das Interview.
Wer sich traut, sollte keine Eier zum Werfen parat haben, sondern
darüber nachdenken, was dieser Leser zu sagen hat, bzw. Eier in
der Hose haben, um mit Marc gemeinsam darüber zu lachen.
War ich mutig? Ja. Und das Ergebnis?
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