© Sabine Ibing, Lorib GmbH         Literaturblog Sabine Ibing
Autorin Sabine Ibing
»Schwindel, so erklärte mir meine Ärztin, sei ein bekanntes Phänomen, komme bei älteren Menschen häufiger vor als bei jungen, Ursachen seien selten zu finden. … Mir schwindelt, und ich denke an meine Mutter, die Schwindeln und Lügen unterscheidet. Sie selbst, so behauptet sie, schwindele ab und zu, lüge aber nie, gar nie – oder höchstens ganz selten. Schwindeln sei nicht so schlimm wie lügen, gleiche eher dem Flunkern. Wie, wenn mein Schwindel ein Schwindel wäre?« Die sechzigjährige Sophie, die in Rom lebt, wird von ihrer Mutter nach Hause gebeten, in eine herrschaftliche Wohnung im Zürcher Seefeld. Die Mutter muss ausziehen, man hatte ihr die Wohnung gekündigt, die alte Frau ist wie betäubt, beraubt ihrer Heimat, atmet nur noch mithilfe eines Sauerstoffgeräts. So kehrt Sophie an den Ort ihrer Kindheit zurück. Sie soll helfen, die Wohnung auszuräumen, ein Heim zu suchen. Und mit Eintritt in die Wohnung tritt die Erinnerung zurück. Wer war ihr Vater? Ein Rätsel, das sie nie lösen konnte. »Was brauchst du einen Vater, du hast drei Onkel, das genügt, sagte meine Mutter jeweils, wenn ich sie wieder und wieder mit Fragen nach meinem Vater plagte.« Sophie wuchs zwischen Mutter, Großeltern, Haushaltshilfe und drei immer präsenten Onkeln auf. Sie streift durch die Wohnung, beschließt, ihrem Kindheitstrauma auf die Spur zu kommen. An den Vater kann sie sich nicht erinnern, der verschwand in ihrer frühsten Kindheit. Es gab auch keine Fotos, der Vater, ein Mensch der verschwiegen, verleugnet wurde. Über schmutzige Wäsche spricht man nicht, sage die Mutter und in diesem Haushalt gab es auch keinen Schmutz. Es ist an der Zeit, den Staub aufzuwirbeln, Hausputz zu machen, nimmt sich Sophie vor. »Von Papa spricht Mama nicht. Papa heißt Robert … Ganz selten seufzt Mémé und murmelt Robert, Robert, was sie französisch ausspricht, unklar, ob sie Opa meint oder Papa oder beide. Das Robär, Robär tönt wie Bär, das Kind rennt zum Gitterbett, umarmt seinen Bären und weiss nicht, warum es weinen muss.« Alte Erinnerungen kommen herauf, denen Sophie nachgeht und sie besucht noch lebende Verwandte, Augenzeugen. Der Vater verschwand irgendwann, als Sophie drei Jahre alt war. Er kam nicht wieder, ganz klischeehaft. Doch wer war dieser Mann und warum hat er die Mutter sitzengelassen? Die Mutter war eine schöne Frau in jungen Jahren, damenhaft, modebewusst, ganz mondän, genau wie die Einrichtung der Wohnung. Und dann waren da diese Onkel … ständig waren sie zu Besuch. Vielleicht gab es keinen Vater, denn es gab keine weiteren Großeltern, keine Fotos. Vielleicht ist einer von den Onkeln ihr Vater, oder alle drei? Sophie mochte die drei. Vik half ihr, die Mathematik zu verstehen, mit der sie nichts am Hut hat. Sip erklärte ihr die Mode und die Anmut der Körperhaltung. Leib hatte sie am liebsten, er brachte Bücher ins Haus, lehrte Sophie das Lesen. Und er weckte ihr Interesse an Wort- und Sprachspielen, an Gedichten, schon in ganz jungen Jahren. Die Männer buhlten um die Mutter, verehrten sie. »Die Angst meiner Mutter: verlassen zu werden. Kam ich später nach Hause als erwartet, fand ich sie in Tränen aufgelöst, jeden Onkel, der es wagte, nur Minuten zu spät zu kommen oder seinen Besuch zu verschieben, beschimpfte sie laut und unanständig.« Sophie löchert die Mutter, kramt in Erinnerungen und plötzlich rücken die beiden ein wenig zusammen, die sich so weit voneinander entfernt hatten. Die Lösung ist einfach. Der Vater sagte, er gehe Zigaretten holen und kam nicht zurück. Wohin auch immer er verschwunden ist. Nie wieder hörte man etwas von ihm. Die Schwiegereltern gaben der Mutter die Schuld. Das alles war. Aber ist es wahr?, fragt sich Sophie. Man geht doch nicht einfach fort. Es gibt auch andere Stimmen, die sagen, der Vater hielt die anderen drei Männer nicht aus. Und nun erfährt Sophie, was es mit der Freundschaft des Kleeblatts auf sich hatte. Andere Stimmen sagen, dem Vater sei der Hang der Mutter nach Luxus auf die Nerven gegangen, er war unter Druck. Was ist wahr? »Ist mir die Heimat so wichtig, weil mir die Liebe nie treu war? Viele Anfänge, große Hoffnungen, wechselnde Beziehungen, vorwiegend mit Frauen, kürzere oder längere Liebesgeschichten, meist kürzere, da ich mich, um nicht verlassen zu werden, bei der kleinsten Unstimmigkeit zurückzog.« Wir lernen Sophie in ihrer Wohngemeinschaft in Rom kennen, verhaftet in ihre Probleme. Am Ende wird sie die Mutter zu Grabe tragen, halbwegs versöhnt. Esther Spinner arbeitet mit Sprachwitz, was mir sehr gut gefallen hat. Es gibt wunderbare Passagen. Allerdings konnte ich das Buch nicht in einem Rutsch lesen, die Geschichte fesselte mich nicht. Parallel habe »Benjamin und seine Väter« von Herbert Heckmann gelesen, mit der gleichen Thematik: Die Suche nach dem Vater, nach der eigenen Identität. Bei dem einen Buch konnte ich schmunzeln, beim anderen habe ich laut gelacht, es verschlungen, über 400 Seiten. Die 190 Seiten dieses Bandes konnten mich nur am Anfang hineinziehen. Zu zäh ist die Rahmenhandlung, es gibt viele Erinnerungen, keinen packenden Spannungsbogen. Es klingt wie ein Befreiungsschreiben der Autorin von der eigenen Geschichte. Ich war bei der Lesung, dort hat sie eine Autobiografie verneint. Am Ende muss ich tief Luft holen. Es gibt ziemlich viele Parallelen, auch wenn es nicht genau die Geschichte von Esther Spinner ist. Puzzlestücke zwischen dem Heute und dem Vergangenen, auf der Suche nach dem Erzeuger, ein nicht uninteressantes Werk. Versatzstücke, die hintereinandergereiht einen Sinn ergeben, sprachlich fein formuliert, ohne Frage. Aber mich hat es als Leser nicht bezaubert, der Funke konnte nicht überspringen. 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Alles war von Esther Spinner