Autorin
Sabine Ibing
»Das Leben ist oft ein Spiel in zwei Sätzen: Im ersten schläfert es dich ein
und lässt dich glauben, dass du führst, und im zweiten, wenn du
entspannt und wehrlos bist, serviert es dir seine Schmetterbälle und
macht dich alle.«
Vom angesagtesten Plattenverkäufer in Paris zum Clochard … So könnte
man dieses Buch in einem Satz zusammenfassen. Vernon Subutex besaß
früher einen Plattenladen, aber nicht irgendeinen, denn der Punk-Rock-
Fan hatte besondere Scheiben, bei ihm trieb sich die Musikszene herum,
die Intellektuellenszene. Daher kennt er einen Haufen interessanter
Leute aus den Branchen Musik, Film und Literatur. Mit allen ist er auf
Facebook befreundet. Irgendwann lief der Laden nicht mehr so gut, man
stieg auf CD’s um und dann kam die Zeit, in der man elektronisch seine
Musik herunterlud. Vernon gab auf, verkaufte auf e-bay den Ramsch
aus dem Keller: T-Shirts, Poster usw. Das wiederum war historischer Kult,
das Geschäft lief gut. Irgendwann war der Keller leer.
Vernon Subutex steht für eine ganze Generation. Subuetx ist ein starkes
Schmerzmittel, wird auch als Heroinersatz gegeben. Vernon schließt den
Laden, meldet sich arbeitslos. Er verhält sich nicht kooperativ genug,
bewirbt sich nicht genügend, verliert das Arbeitslosengeld. Zunächst
wird Vernon von dem Sänger Alex unterstützt, sie kennen sich aus
Jugendtagen, Alexandre Bleach, sein alter Rock-Band-Kollege, der als
Schlagersänger Karriere machte. Alex schickt ihm monatlich einen
Scheck, damit Subutex seine Miete zahlen kann, nicht verhungert. Doch
Alex bringt sich um, macht Schluss in der Badewanne eines Hotels. Und
nun steht der Gerichtsvollzieher vor Vernons Tür, setzt ihn auf die
Straße. Ihm verbleibt sein geliebtes Handy, sein sozialer Kontakt zu
Facebook. Irgendwann verweilte Vernon kurz in Kanada. Die meisten
Leute haben nicht mitbekommen, dass er lange wieder zurück in Paris
ist.
»Das Entscheidende, und er hat lange gebraucht, um es zu begreifen, ist
eine Braut, die mit einer Wohnung wie dieser, verlängerten
Wochenenden in der Sonne und einem großen, gut gefüllten Kühlschrank
geliefert wird.«
Seit Alex Tod schreibt Vernon begeistert Kommentare bei Facebook,
bringt sich in der Damenwelt in Erinnerung. Er braucht eine Unterkunft.
Und so schläft er sich von Wohnung zu Wohnung, von einer Katastrophe
zu nächsten, bis er irgendwann auf der Parkbank landet.
»Ich habe keinen sozialen Status. Ich habe keine berufliche Zukunft.
Wenn ich auf die Gewalt verichte, wann fühle ich mich dann als Herr?
Ehrlich mal, wer respektiert einen unterwürfigen Proleten?«
Digitalisierung, Wirtschaftskrise, steigende Mieten in den Metropolen,
der Abstieg ganzer Gesellschaftsgruppen, der einfache Ladenbesitzer,
der sich das alles nicht mehr leisten kann. Auf der anderen Seite stehen
Superreiche, die in riesigen Wohnungen Partys geben, Vernon verdient
sich gern ein paar Euro als privater DJ, reiche Männer, junge Mädchen,
Drogen.
»Sie hat eine Aufnahmeprüfung bestanden, ist Staatsbeamte, hat ihren
Iro gegen einen dezenten Bob eingetauscht. Sie kleidet sich bei Zara ein,
wenn sie dort etwas in ihrer Größe findet. Sie ist Spezialistin für Olivenöl
und grünen Tee, hat Télérama abonniert und spricht auf der Arbeit mit
ihren Kolleginnen über Rezepte. Sie hat alles getan, was sie nach dem
Wunsch ihrer Eltern tun sollte. Aber sie hat keine Kinder, und deshalb
zählt alles andere nicht. Bei den Familienmahlzeiten ist sie das schwarze
Schaf.«
Vernon gibt vor, aus Kanada zu Besuch zu kommen, er sucht eine
Unterkunft. Er ist ein Charmeur und nicht unansehnlich. Schnell nimmt
ihn die Damenwelt auf, doch er bereut schnell, sich mit der jeweiligen
eingelassen zu haben. Auch die Männer, die ihm kurz Unterschlupf
gewähren, meinen es nicht unbedingt gut mit ihm. Allesamt stammen aus
dem Kulturbereich und alle haben Probleme, befinden sich auf dem
Abstieg. Einige möchten vom Tod von Alex profitieren, dem berühmten
Sänger, mit dem Vernon bekannt war. Jeder glaubt, noch einmal die
Leiter nach oben zu klettern mit einem Film, einem Buch über Alex.
Vernon besitzt ein paar Casetten mit Interviews von Alex. Diese ganze
Gesellschaft ist ein Bienenvolk, emsig, immer den Stachel ausgefahren,
jemanden zu stechen, der ihnen über den Weg läuft.
»Unfassbar, was so ein kleines Geschöpf für einen Schaden anrichten
kann, sowohl in puncto Lärm, als auch in puncto materieller Zerstörung:
Zum ersten Mal seit er da war, fand Vernon an der widerlichen
Sammlung von Stofftieren etwas Gutes: Man kann sie an die Wand
werfen, sie zerbrechen nicht und machen kein Geräusch. Aber es sah so
aus, als würde das Sylvies Zerstörungswut noch steigern.«
Egoistisch, narzisstisch, eifersüchtig, melancholisch bis depressiv, immer
laut und garstig, eine pöbelnde Gesellschaft, deren Zweck es scheint,
über andere herziehen zu müssen, um sich selbst ins Licht zu setzen.
Frauen, die Vernon vereinnahmen, er hält es nicht aus, beklaut sie haut
ab. Fotos von Facebook und Instagram verraten, wer die Nächste ist, er
rechnet nicht mit der Reaktion der Furien. Die Figuren hassen sich selbst
und projizieren ihren Hass auf den Rest der Welt, eine neue Welt, in der
sie selbst nicht mehr gefragt sind. Es wird viel gesoffen, geneidet, die
Worte sind derb, die Männer rassistisch, man ahnt warum der »Front
Nacional« so viel Zuspruch erfährt, die ehemals Linken zu den Rechten
hinüberlaufen.
»Ich habe mir die Fotos der Kleinen angeguckt und begriffen, was mich
am meisten runterzieht … Sie sieht so aus, als würde sie bis spät in die
Nacht Hausaufgaben machen, sie trägt ein Kopftuch und macht ein
Gesicht, als wäre sie permanent eingeschnappt …«
Die Figuren sind sehr unterschiedlich, aber doch bezeichnend für unsere
Gesellschaft. Jede wird einzeln vorgestellt. Die junge Aisha, 19, ihr Vater
Sélim ist Universitätsprofessor, bekommt heraus, dass ihre Mutter, die
sie nie kennenlernte, sehr bekannt war: der Pornostar Vodka Satana.
Entsetzt konvertiert sie zum Islam. Sylvie war einmal heroinabhängig, sie
betrachtet die körperlichen Folgen fasziniert im Spiegel. Xavier,
Drehbuchautor, und Script-Doctor, heute erfolglos, kahlrasierter
Schädel, übergewichtig, schlägt seine Frau. Er beschwert sich übelst über
die vielen Muslime im Land.
»Die dicke Kuh hat Humor. Oder sie ist verrückt. Wenn sie nicht so
dreckig wäre, würde er denken, sie gehöre zu der Kategorie von
Menschen, bei denen man nicht weiß, ob sie genial oder völlig
durchgeknallt sind. Er hockt sich neben sie. Scheiß auf die Distanz.«
Mein Herz hing nicht an Vernon, Mitleid blieb mir fern, er ist nicht besser
als die anderen. Doch ganz zum Ende konnte er mich packen. Dicht vor
einem Tränchen mit Vernon allein auf der Straße, der immer mehr die
Distanz verliert, dem irgendwann alles scheißegal ist. Hier lernt er
andere Typen kennen, das andere Paris, schließt Freundschaft mit
denen, gegen die sich Wut seiner alten Bekannten richtet. Die Sprache ist
echt, gnadenlos, gezielt gesetzt, mal schockierend, mal beißend
satirisch, gelegentlich bitter. Mir hat das Buch sehr gefallen, das
Gesellschaftsporträt einer Großstadt.
Virginie Despentes wurde im letzten Jahr als Nachfolgerin von Régis
Debray in die Académie Goncourt gewählt. »Das Leben des Vernon
Subutex« ist in Frankreich ein Bestseller und ist als Trilogie angelegt. Der
dritte Teil erscheint in Frankreich in diesem Jahr. Die Bücher sind als TV-
Serie verfilmt.
Teil 2 Das Leben des Vernon Subutex 2 von Virgine Despentes
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Rezension
Das Leben des Vernon
Subutex
von Virginie Despentes