Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Der Trafikant
von Robert Seethaler
Hörbuch, 6 Std, 22 Min,
gelesen von Robert Seethaler
»Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon
schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch
noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal
Gewusste zu vergessen.«
17-jährige Franz Huchel wohnt im Salzkammergut, als seine Mutter
beschließt, er möge fortan auf eigenen Füssen stehen. Sie vermittelt ihn
als Lehbub an einen alten Freund in Wien, der eine Trafik (Zeitungen,
Tabak, Schreibwaren) besitzt. Der naive Junge vom Dorf bestaunt das
geschäftige, laute, stinkende Wien. Es gibt viel zu lernen über den Tabak,
die Sorten, die Zigarren und über Kunden, ihre Namen, ihre Vorlieben und
Eigenarten.
Wir schreiben das Jahr 1937. Siegmudf Freud ist Stammkunde der Trafik,
die auch an Juden verkauft, was sich immer weniger Geschäfte trauen.
Fensterscheiben werden beschmiert, immer heftiger treten Nazis pöbelig
bis brutal auf. Der junge Franz versteht so vieles nicht, kennt nicht mal
den Begriff Jud. Er liest die Zeitungen, versucht zu verstehen. Der
Trafikant, Otto Trsnjek, liebt Bücher, Zeitungen und Kaffeehäuser. Er ist
sehr belesen und philosophiert gern, versucht, dem Franz die Welt zu
erklären.
»Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis
unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das
große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere
übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles
und jedes, und da sei es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem
breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der
Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der
größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt,
verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt zugrunde gerichtet.«
Natürlich ist Franz einsam, sehnt sich nach Liebe. Dummerweise verliebt
er sich in die frivole Variététänzerin Anezka. Nach dem ersten Gefühl der
Liebe folgt sogleich der erste Liebeskummer. Franz fühlt sich krank. Er
erinnert sich an den Psychoanalytiker Freud. Der weiss, wie man
Menschen im Kopf heilt, indem man sich mit ihnen unterhält. Und Freud
findet wirklich an dem Jungen Gefallen. Gerade aufgrund seiner
einfachen Fragestellungen, seiner Unbedarftheit, stellt Franz Dinge
infrage. Franz mag den Herrn Professor, aber weiterhelfen kann er auch
nicht. Selbst der große Herr Freud kennt sich mit den Frauen nicht aus.
»,Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der
Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus
den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!‘ – ,Das ist
nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand
irgendetwas.‘ – ,Nicht einmal Sie?‘ – ,Gerade ich nicht!‘«
Otto Trsnjek ist ein aufrechter Dickkopf. Er lässt sich von dem braunen
Gesocks nicht einschüchtern. Darum lebt er gefährlich, er spielt mit
seinem Leben.
Eine leichte Sprache macht diesen Roman aus. Aus der Sicht des Jungen,
der noch nie sein Dorf verlassen hat, sehen wir in eine böse Welt. Franz
ist voll Vertrauen, voll Lebensfreude, stellt kluge Fragen, allerdings auf
seine naive Art. Auf der einen Seite zeigt uns Robert Seethaler die
grausame Wirklichkeit: Nazis beherrschen die Stadt, Menschen werden
abgeholt, verschwinden. Wer nachfragt, lebt gefährlich. Jüdische
Geschäfte werden geschlossen, auch Freud muss fliehen. Denunzianten,
hasserfüllte Menschen, Schleimer, die das Fähnchen nach dem Wind
ausrichten, Widerständler, das alles sieht Franz. Davon steht jedoch
nichts in seinen schlauen Zeitungen. Auf der anderen Seite hält Franz die
Waage. Er steht für die Zukunft, für den Glauben an das Gute, dass
irgendwann alles gut wird. Das Landei reift zu einem erwachsenen Mann
im Trubel der Ereignisse.
Der über 80-jährige Freud trifft sich mit einem tumben Jüngling zu
Gesprächen? Garantiert nicht, sagt jeder Freudkenner. Lassen wir das
einfach dahingestellt sein. Die Idee hat etwas Humorvolles, geben wir uns
der Fantasie hin. Franz beobachtet, er berichtet, wertet nicht. Beim Lesen
überlief mich manchmal ein Schauer, immer wenn ich bemerkte, wie sehr
ich über ernste Themen schmunzelte. Die satirische Art, der naive Tonfall
des Jungen lässt den Leser das Schlimme sehen, aber es tut gut,
zwischendurch aufatmen zu können, mit einem Lächeln. Der alte
Psychoanalytiker sitzt neben dem Jugendlichen auf der Bank, beide
fragend, können sie sich die Welt nicht erklären. Eine lockere, aber
poetische Sprache, spannend, gefühlvoll, eine Geschichte, die den Leser
berührt und mitnimmt.
»,Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?‘ –
,Junger Mann‘, sagte Freud und hielt an, ,Man muss das Wasser nicht
verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!‘«
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