Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Die Schatten von Race Point
von Patry Francis
„Dass ich sauer auf dich bin, heisst doch noch lange nicht, dass ich dich
allein im Dunkeln mit dem Rad nach Hause fahren lasse. Oder dass ich
dich nicht mehr gern habe. Oder dass ich nicht verstehe, warum du so
gehandelt hast. Mein Gott, Mila, du hast wirklich keine Ahnung, was es
heisst, eine Familie zu sein, oder?“
Knapp 600 Buchseiten verfliegen, ein Roman, den man nicht gern zur Seite
legt, bis man auf der letzten angelangt ist. Hallie, Gus und Neil sind dicke
Freunde seit der kleine Gus „Waise wurde.“ Sein liebeswerter Vater hatte
die Eigenschaft unter Alkohol zum Tier zu werden, schlug die Mutter, bis
sie tot war. Die Mutter im Grab, der Vater im Knast, so wächst der Junge
bei Tante und Onkel auf, und hier beginnt 1978 die Geschichte über einen
Zeitraum von circa 30 Jahren. Der Cousin von Gus nennt ihn
ehrfurchtsvoll Voodoo, weil Gus alle Menschen um sich herum in Bann
schlagen kann. Der gutaussehende Junge wird Footballstar der Schule,
wird in der Zukunft Priester werden. Hallies Vater ist der Arzt in dieser
Kleinstadt, ein warmherziger Mann mit Prinzipien, der keinem Patienten
die Hilfe verweigert, auch wenn er pleite ist. Hallies Mutter ist früh
gestorben, sie lebt mit ihrem Vater allein, möchte später in seine
Fußstapfen treten. Neil, der Dritte im Bunde hat zwar eine intakte Familie,
doch die Eltern kümmern sich wenig um ihn. Früh zeigt sich, dass er Talent
zum Schauspieler besitzt. Er steht im Schatten der beiden anderen, zeigt
früh Stalkingtendenzen. Alle drei sind Nachfahren von Portugiesen, wie
die die Mehrheit in dem Fischernest Provincetown am Race Point in
Neuengland haben.
Neil liebt Hallie und Hallie liebt Gus, aber Neil liebt auch Gus, auf andere
Weise. Die drei werden langsam erwachsen und der Abschlussball nach
der Highschool steht an. Er endet mit einem Drama. Obwohl sich die Wege
der drei trennen, bleiben sie in Kontakt, bis sich ein neues Drama
anbahnt. Gus fällt einer Intrige zum Opfer.
Ein Roman über Freundschaft, Liebe und Familie, über den Schatten der
Kindheit, den man mit sich herumträgt. Eine Geschichte über Verrat und
Eifersucht, über das Loslösen seiner eigenen Dämonen. Feingetaktete
Charaktere, zeigen wie jeder Protagonist für sich auf seine Art mit dem
Verlassensein kämpft. Warum sind Menschen wie sie sind und wie gehen
sie mit ihren Belastungen um. Kann man eine große Liebe abschütteln mit
einer neuen Beziehung?
Gewalttätige Männer sind in diesem Buch ein großes Thema. Was macht
Gewalt mit Frauen, mit Kindern? Liebe und Gewalt stehen hier dicht
nebeneinander. Frauen die lieben und wissend in die Faust rennen,
Kinder die sich später damit plagen, der Mutter nicht beigestanden zu
haben, beladen mit Schuldgefühlen. Atmosphärisch und dicht geschrieben
führt uns Patry Francis an die Küste von Neuengland, lässt uns das Meer
und den Wind riechen, fühlen, das Knistern des Lagerfeuers hören, das
Lachen der Jugendlichen. Sie lässt uns aber auch tief in die Seele der
Protagonisten blicken, ein Blick der berührt.
Wer anfangs glaubt, aus der Kindergeschichte entwickelt sich ein
kitschieger Liebesroman, dem wird spätestens nach dem ersten Drittel
die Keule gezeigt. Nicht ganz. Hallie wird später eine Jugendliche bei sich
aufnehmen, was sich mir nicht ganz erschließt, aber ich will nicht zu viel
verraten. Das Ende ist mir zu konstruiert. Warum muss Neil noch einmal
involviert werden, ein Protagonist der verschwunden ist, ist weg … das
wirkte kitschig und aus der Kiste gezogen. Auch war mir nicht klar,
weshalb Gus Priester wurde. Die Charaktere waren allesamt sehr
schlüssig und ausführlich ausgebreitet. Eine weitgreifende Entwicklung
für sein weiteres Leben. Von daher ist es verwunderlich, dass die Autorin
hierauf nicht einging. Die Anspielung zu „David Copperfield“ von Dickens,
ein Buch das eine Rolle spielt, fand ich liebenswert.
Alles in allem ein lesenswertes und spannendes Buch, ein Drama um
Freundschaft und Familie am Cape Code. Ich würde das Buch nicht als
Schmonzette bezeichnen, dafür ist es zu gradlinig und fein gezeichnet.
Zum Ende hätte ich mir weniger Zufälle und Kitsch gewünscht.
Und an den Verlag: Ich bitte um ein ordentliches Korrektorat! Es wimmelt
von Tippfehlern und einmal fehlt ein halber Satz. Das nicht würdig für
einen Publikumsverlag. Einen Pullover würde ich nun als mangelhaft
stornieren. Aber mit Lesern kann das wohl machen?
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