Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Die verlorenen Zeilen der Liebe
von Astrid Korten
«Die Liebe stirbt nie eines natürlichen Todes, sondern an
Vernachlässigung, Nachlässigkeit, Blindheit, Gleichgültigkeit,
Selbstverständlichkeit, Unverstand und sie zudem in ein Korsett zu
zwängen und nicht zu kultivieren, ist ein tödlicher Fehler.»
Chloé steckt in den Hochzeitsvorbereitungen, als sie ein Bündel
Briefe erhält. Lilly, ihre vor zwei Jahren verstorbenen Schwester
hatte sie an Chloé geschrieben, aber nie abgeschickt.
Dieses Buch hat mich als Rezensent zu langen Zwiegesprächen
gebracht, um nichts zu verraten:
Das Buch ist ein Liebesroman.
Nein, das würde dem Text nicht gerecht werden. Doch, es ist auch
ein Liebesroman, eine Amour fou.
Der Roman lässt sich in keine Schublade zwängen und hat mich in
der Gesamtkomposition beeindruckt, Spuren hinterlassen, weil …
Halt! Du verrätst zu viel, für die, die das Buch noch nicht kennen.
Stimmt. Und darum bezieht sich die Rezension nicht auf meinen
Gesamteindruck, über den ich gern etwas mehr gesagt hätte.
Fangen wir mit der Amor fou an. Was ist das? Eine Obsession, eine
leidenschaftliche Liebe, eine, die keine Bodenständigkeit besitzt,
weil sie keinen Bestand hat, eine die nicht sein darf, weil
irgendetwas zwischen den Liebenden steht. Die typische
Grundlage eines Liebesromans, der entweder in märchenhafter
Traumhochzeit endet oder tragisch, wie wir es aus Romeo und
Julia kennen.
Halt, wird einer denken, Astrid Korten schreibt harte Thriller …
Nein, hier ist alles ganz anders.
Auf den ersten Seiten hat mich das Buch nicht packen können,
aber es war gut zu lesen. Doch als die Geschichte von Lilly begann,
erste Briefe zu Tage kamen, tauchte ich in den Roman ein. Lilly
kommt vom Lande nach Paris, um Literaturwissenschaft zu
studieren, wohnt bei ihrer Tante. Die junge Frau möchte aber
mehr, in ihr steckt die Sehnsucht nach Liebe, die Sehnsucht etwas
zu erleben, ihrer Jugend freien Lauf zu lassen. Lilly ist ein wenig
verstaubt, trägt Petticoats, einen altertümlichen Haarschnitt und
sie ist ein naives Gänschen. Im Café de Flore bekommt sie einen
Kellnerjob, lernt dort Monsieur Inconnu kennen, wie sie den Mann
in ihren Briefen nennt. Der erfolgreiche Geschäftsmann ist
wesentlich älter als sie, sieht blendend aus, besitzt großen Charme
und er ist verheiratet. Eine Liebschaft beginnt. Lilly ist unsterblich
verliebt in diesen Mann.
Monsieur Inconnu lernen wir auf seine Weise kennen, im Gespräch
mit seinem Freund. Armand, so heißt Monsieur Inconnu richtig,
betrachtet Frauen als amüsantes Spielzeug, das man benutzt und
ersetzt, wenn es langweilig wird. Dazu hat er sich eigens ein
Appartement im Herzen von Paris gemietet. Von Anfang an erklärt
er Lilly, er sei verheiratet und sei nur auf eine Obsession aus,
mehr nicht. Die lebensfrohe und leidenschaftliche Lilly, unerfahren
in der Liebe, akzeptiert das, doch im Hinterkopf ist sie sicher,
Monsieur Inconnu von der Tiefe ihrer Liebe überzeugen zu
können.
«Er ist das Gegenteil von mir. Ihm ist es egal, was die anderen
denken. Und er entschuldigt sich nie, für nichts. Nie fühlt er sich
jemandem unterlegen und bedauert nicht einmal seine
Ahnungslosigkeit in Sachen Liebe.»
In ihren Briefen berichtet Lilly ihrer Schwester von Monsieur
Inconnu, von ihrer Vorstellung der romantischen Liebe. Lilly
schreibt auch Gedichte. Ihre Briefe sind jugendlich-naiv und
melancholisch, voller Gefühl, aber auch beschwingt. Lilly berichtet
von ihren bösen Träumen, irgendetwas aus ihrer Kindheit möchte
ans Tageslicht steigen … Eines Tages begeht Lilly einen
folgeschweren Fehler.
„Er hat mich buchstäblich zerstört. Ich bin bis auf die
Grundmauern abgebrannt. Vielleicht kann ich mich wieder
aufbauen, vielleicht nicht. Er sagt, Besessenheit sei heilbar. Sex
wird häufiger mit Liebe verwechselt.»
Astrid Korten beschreibt ein junges Mädchen, das behütet
aufgewachsen ist und das Böse nicht kennt, naiv meint, mit
großem Vertrauen diese Welt erobern zu können. Auf der
anderen Seite haben wir Armand, einen narzisstischen Mann mit
starker Ausstrahlung, liebesunfähig. Er ist erfolgreich,
gutaussehend und erotisch. Das Mädchen ist fasziniert, sie glaubt
an die einzig wahre Liebe, die sie in ihm gefunden zu haben
glaubt. Im Vergleich mit den loddrigen Studenten, die lieber
politische Dinge diskutieren wollen, steht Armand für Lilly
gottgleich da.
Aber wir sehen auch in die andere Seite der Seele von Lilly, die
etwas tief im Inneren vergraben hat, das heraus will. Was
bedrückt sie? Astrid Korten schreibt psychologisch fein
beobachtet. Man fühlt mit der zerbrechlichen Lilly, mag sie
aufwecken und man mag Armand die Faust zeigen, obwohl dieser
auf seine Weise nie unehrlich ist. Sprachlich lernen wir Astrid
Korten von einer anderen Seite kennen, leidenschaftlich und
melancholisch, passend zu ihrer Protagonistin.
Ein feines Psychogramm das sich bis zum Ende wie ein Netz
zusammenspinnt. Dieses Buch schlicht einen Liebesroman zu
nennen, wäre ungerecht, Gesellschaftsdrama ist passender.
Meine Empfehlung auch an die Leser, die Liebesromane weniger
mögen. Dazu gehöre ich übrigens auch.
Hier zum Interview mit Astrid Korten
Mein Beitrag zur Blogtour zu diesem Buch: Leid und Sehnsucht
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