Autorin
Sabine Ibing
»Du kannst in nichts anderem arbeiten als in deinen eigenen beengten
Dimensionen. Du lässt geschehen, was geschieht.«
Eine ältere Frau bewirft den Gouverneur von Wyoming bei einem
Wahlkampfauftritt in Chicago mit Kieselsteinen, trifft ihn dummerweise
am Auge. Der Kieselstein, den Faye Anderson-Andresen geschmissen hat,
wird zum Attentat aufgeplustert, sie ist nun Staatsfeind Nummer eins.
Samuel Anderson-Andresen, ein Englischdozent und gescheiterter
Schriftsteller, schlägt sich mit einer Studentin herum, die ihre Arbeit
abgeschrieben hatte, der er deshalb eine schlechte Note verpasst hatte.
Sie probiert nun, mit diversen fiesen Methoden an seinem Stuhl zu sägen.
Diesen Teil des Buchs, der immer wieder auftaucht, fand ich besonders
interessant. Samuel ist privat ein verloderter Computerspielefan. Zocken
in Ballerspielen ist sein Leben, er ist Dodger, der Elfendieb, der mit seinen
Kameraden Axman und Pwnage einen Drachen besiegen will. Und nun
meldet sich sein Verleger, verlangt von ihm ein Buch. Zehn Jahre zuvor
hatte er einen guten Roman auf den Markt gebracht, einen fetten
Vorschuss für ein neues Werk erhalten, aber nie geliefert. Schreib ein
Buch über diese Frau mit den Kieselsteinen, mach sie fertig! Diese Frau ist
deine Mutter! Samuel hatte nichts mitbekommen, sein Leben findet in
Computerspielen beim Orkabschießen statt. Liefert er nicht, mahnt der
Verleger, muss er den Vorschuss samt Zinsen und Konventionalstrafe
innerhalb von kurzer Zeit auf den Tisch legen. Wovon? In der Zeitung
liest Samuel über diese Frau, die ihn als kleinen Jungen beim Vater
zurückließ, sich nie wieder meldete. Sie habe bereits 1968 in Chicago an
Demonstrationen teilgenommen, sei politisch vorbestraft, so sagt man.
Samuel weiß nichts über seine Mutter, trifft sich mit ihr. Sie ist kühl, hat
einen Anwalt dabei, der ihm ein Papier überreicht. Es gibt kein Gespräch,
lediglich das vom Anwalt verfasste Dokument, das besagt, die Mandantin
sei unschuldig. Er soll mit dem Text bei Richter Brown für seine Mutter
Fürbitte stellen. Das ist das Gegenteil von dem, was sein Verleger
verlangt. Hasst Samuel seine Mutter? Er erinnert sich nun an seine
Kindheit. Er will ein Buch über sie schreiben, die Wahrheit, egal, wie sie
ausfallen wird.
Nathan Hill wird bereits mit John Irving verglichen. Knapp 900 Seiten, das
wollte ich mir lieber als Hörbuch gönnen. Und richtig, Hill ist ein guter
Geschichtenerzähler, aber an Irving kommt er nicht heran. Es gibt in dem
Buch jede Menge Seitenstränge, Nebenfiguren, die eigene Geschichten
erzählen. Das ist gut, aber auch anstrengend, dehnt und manchmal muss
man erst überlegen, wenn man auf den Hauptstrang zurückgekehrt ist,
wo dieser vorher endete. Wir lernen Samuels Kindheit kennen, seine
Freunde, die Schule und den Tag, an dem die Mutter verschwand.
Warum ist sie gegangen? Samuel ist auf der Suche, befragt Personen der
Vergangenheit. Was war 1968 passiert? Warum verfolgt Richter Brown
Faye nun juristisch so gnadenlos? Wegen einem Kiesel? Und nun blättert
sich Fayes Geschichte auf. Kleinstadtleben in den USA der Sechzigerjahre,
wird aufgezeigt. Faye hat ein gutes Zeugnis und entschließt sich, in
Chicago zu studieren. Das unpolitische Mädchen gerät über die
Hippiebewegung und Frauenbewegung in die Chicagoer 68er-Unruhen.
Nathan Hill beschreibt die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft.
Fayes Vater, ein Einwanderer aus Europa musste schwer schuften. Die
Tochter steigt auf in der Gesellschaft, doch Fayes Freund Frank will
heiraten, sie zur Hausfrau machen, was ihr nicht passt. Sie hat das Recht
auf Bildung, genau wie die Männer. Trotzig geht sie nach Chicago und ihr
Freund meldet sich als Soldat für Vietnam. In Chicago angekommen, stellt
Faye fest, dass sie ein ziemliches Mauerblümchen ist, keine Ahnung von
der Welt hat. Sie trifft auf feministische Kämpferinnen, schließt sich
denen an. Ist es das, was sie will? Auch die Studenten sind von Spitzeln
infiltriert, die für die Polizei arbeiten. Faye wird später in den
Kleinstadtmief zurückkehren und Frank heiraten. War es das, was sie
wollte? Auf keinen Fall, denn eines Tages packte sie den Koffer und ging.
Wir wechseln zwischen der heutigen Zeit und dem damals hin und her.
Samuel braucht jemanden, der ihm zuhört. Bisher hat es ihm gutgetan,
sich in der Elfenwelt vor der Realität zu verstecken. Aber er kennt ja
niemanden, nur die Truppe der Computernerds. Bei denen kommt es
schräg an, zu fragen, wer bereit ist, sich real kennenzulernen. Doch
einer beißt an, Pwnage, dem man wegen der Rezession gekündigt habe:
»Sie könnten sich nicht mehr so viele Angestellte leisten. Obwohl der Chef
in dem Jahr ein Gehalt gekriegt hat, das achthundert Mal so hoch war wie
meines. Angesichts von so was würde ich sagen, Elfscape ist eine ziemlich
vernünftige Antwort.«
Die Geister, die ich rief ... Was passiert, wenn ich unbeteiligt in
irgendetwas hineinschliddere?, ist ein ständiges Thema in diesem Buch.
Wäre mein Leben dann anders verlaufen? »Nix« heißt das Buch im
Original. Und vor dem Nix hat Faye Angst. Ihr Vater erzählte ihr, den habe
er aus Norwegen mitgebracht, ein böser Kerl, der nun im Haus sitzt, bei
ihr bleibt. Man wird ihn nur los, wenn man ihn dort wieder hinbringt, wo er
hergekommen ist, nach Norwegen.
»Trau keiner Sache, die zu schön ist, um wahr zu sein« sagte Fayes Vater
und Faye gab die Botschaft an den Sohn weiter: »Die Dinge, die du am
meisten liebst, werden dich eines Tages am schlimmsten verletzen.«
Ein Gesellschaftsroman über die USA, ein Familiendrama, eine Mutter-
Sohn-Beziehung und vieles mehr in Randgeschichten. Zu viele
abschweifende Randgeschichten für meine Begriffe. Ein Irving ist Hill
nicht. Dazu fehlen ihm schlicht Humor und die Feinfühligkeit zu
gesellschaftlichen Themen. Das Buch ist gut und hat mir Spaß gemacht,
aber es ist zu mächtig und reicht nur für ein gut.
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