Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Kurze Berührungen mit dem Feind
Erzählungen
von Saïd Sayrafiezadeh
»Ich bin Amerikaner wie du!« Aber er war nicht wie ich. Ich war blond und
weiß. Er war dunkel – dunkelhäutig, dunkelhaarig, schwarzäugig – und kam
aus irgendeinem Dorf in Chile»
Sayrafiezadeh berichtet in Kurzgeschichten über das Leben von jungen
Menschen, die sich in unterbezahlten Jobs herumschlagen müssen. Eine
imaginäre Stadt in den USA und ein fiktiver Krieg in einem heißen Land sind
Teil der Geschichten. Ort und Zeit sind unbekannt, wobei Callcenter und
Mails auf die heutige Zeit zurückschließen lassen, tiefer Schnee auf den
Norden. Mitarbeiter in Restaurants, Supermarkt und Callcenter, Lehrer,
Soldaten, die Sehnsüchte des kleinen Mannes, der sich sein Leben anders
vorgestellt hat, vom College träumte. »An mir lässt sich beispielhaft
studieren, wie schmal der Grat zwischen Mensch und Maschine ist. « Diese
Menschen haben sich mit ihrem Schicksal abgefunden, funktionieren, freuen
sich über einen geringfügigen Aufstieg. Nicht ganz: «Ich träumte von Größe
und Ruhm. Ich wusste zwar nicht, wie ich dorthin kommen sollte, hatte aber
keinen Zweifel, dass es klappen würde.»
Das Leben bietet immer eine Chance um aufzusteigen, nimm sie! Werde
Soldat, damit dir hinterher der Staat dein Studium ermöglicht, du hast ja
selbst kein Geld. Hoffentlich stirbst du nicht, wenn du deinen A … fürs
Vaterland hinhältst, so sagt sich der eine. Soldaten werden mit Kuchen und
Fähnchen bejubelt, wenn sie abreisen, als Held gefeiert, wenn sie
zurückkehren. Endlich ist man mal wer, wird wahrgenommen unter den
Kollegen, sogar sein Zeitungsverkäufer feiert ihn als Held, berichtet der
andere, der sich deshalb für den Krieg gemeldet hat. Arbeitsplätze werden
frei durch den Krieg. Vielleicht steigt der Mann aus der Poststelle auf zum
Callcenter-Mitarbeiter und ein anderer freut sich, dass er vom Wischer im
Supermacht zum Barista aufsteigt, fünf Dollar mehr. Da ist der Marktleiter,
der daran zurückdenkt, dass er mal als Toilettensäuberer in diesem Markt
angefangen hat, dessen Ziel eine Bezirksleitung ist.
«Vor sehr langer Zeit hatte John gelernt, dass es der Mittelklasse deshalb so
gut ging, weil sie Besseres erwartete. Sie gaben sich nicht mit weniger
zufrieden, als ihnen zustand. Sie stiegen einfach in ihre glänzenden Autos
und fuhren dorthin, wo man ihren Wert zu schätzen wusste. Arme Leute
hingegen waren es gewöhnt, nur zu nehmen, was man ihnen gab, und dafür
auch noch dankbar zu sein.»
Wofür kämpfen wir in unserem Leben? Wir wollen anerkannt und geliebt
sein. Sayrafiezadeh beschreibt in kleinen Szenen den Kampf ums Überleben
und Funktionieren, das Ringen um Bestätigung, um ein kleines bisschen Ruhm
und Aufmerksamkeit. Sayrafiezadeh schildert den Kreislauf der Gesellschaft.
Der Angestellte im Walmart, der sagt, dass dies Geschäft sein Leben
beschreibt, indem er alles gekauft hat, was er besitzt, von der Zahnpasta
bis zu seinen Möbeln, das ihm hilft, am Leben zu bleiben.
Die Berührung mit dem Feind irgendwo im fremden Land, in mir selbst, dem
Feind in mir, der Kollege, der mir etwas wegnehmen will, das feindliche
Territorium, die Behörde, die den Illegalen aufspürt. Der Gast, der ein
angebissenes Toast auf dem Teller liegen lässt, das ein geplantes Gespräch
zur Gehaltserhöhung zunichtemacht. Ein Kartograph berichtet von den
sexuell anzüglichen Briefchen seines Chefs, die ihn kündigen lassen, obwohl
er in seinem Beruf keinen Job zu erwarten hat.
«Eine Grenze war überschritten, irgendetwas Unwiderrufliches gesagt oder
getan worden, von unserer Seite oder von der des Feindes.» - «Davor stand
eine Reklametafel mit der Aufschrift `Willkommen in Maple Tree Heights’. Die
Tafel sah brandneu aus, abgesehen davon, dass jemand hinaufgeklettert
war und `Bleibt besser weg’ darauf gesprayt hatte.» Es gibt Stadtteile, dort
wagst du dich besser nicht hin. Doch der Protagonist überschreitet die
Grenze. Grenzüberschreitungen des eigenen Ichs, die Überschreitung von
sozialen Distanzen, Berührungen mit dem Feind, das Thema, das alle
Erzählungen trägt, bis hin zum bewussten Schuss des Soldaten auf Zivilisten.
Saïd Sayrafiezadeh wurde 1968 in Brooklyn geboren und wuchs in Pittsburgh
auf. Heute lebt er in New York. Er beschreibt mit diesen Ich-Erzählungen von
Männern die ihre Jugend überschritten haben, sprachlich eindringlich durch
sehr genaue Beobachtungsgabe gesellschaftlicher Zustände in einem
Durchschnittsleben, Ängste und Sehnsüchte, die Monotonie des Alltags, völlig
unaufgeregt. Trotz aller Widrigkeiten wirkt keiner der Beteiligten depressiv,
eine gewisse Heiterkeit durchzieht alle Berichte. Ihre Sicht der Welt lässt sie
hoffen, aus der Sicht des Lesers sind sie gescheitert.
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