Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Sie versammelten sich im Morgengrauen auf dem
Parkplatz und warteten auf Anweisungen.«
Menschen verschwinden, einfach so. Das passiert täglich in der
Großstadt, erregt meist kein Aufsehen, wer nicht persönlich betroffen
ist, vergisst die Geschichte schnell. Wie wirkt sich ein solches Ereignis in
einem Fünfzigseelendorf aus? Vergisst man hier? In einem Dorf in den
East Midlands von England, in Derbyshire, verschwindet bei einem
Spaziergang die dreizehnjährige Rebecca, die mürrisch hinter den Eltern
herstapfte, weit abgeschlagen. Hin und wieder drehten sie sich um,
irgendwann ist die Tochter nicht mehr zu sehen. Die Polizei, das ganze
Dorf ist auf den Beinen. Das Moor, die Berge, jede Ecke wird abgesucht,
die dreizehn Wasserreservate werden von Tauchern abgesucht. Das
Mädchen bleibt verschwunden. Unheil schwebt über dem Dorf. Hat sie
sich verlaufen, ist in eine Schlucht gefallen, ist im Moor ertrunken, in
einen Speicher gefallen, ertrunken, oder hat sie jemand …? Jemand aus
dem Dorf?
»Aber er wurde doch so oft gesichtet, dass der Eindruck entstand, er
könne einfach nicht wegbleiben. Es gab Gerüchte, er und die Mutter des
Mädchens hätten sich getrennt, und zu der Zeit wurde er noch häufiger
gesehen.«
Die Zeit vergeht, das Mädchen wird nicht gefunden. Die Eltern
verschwinden, kommen wieder, suchen, der vorwurfsvolle Blick. Doch
das Leben im Dorf geht weiter. Die Mutter zieht ins Dorf, schreitet wie
eine Bedrohung die Straße entlang. Auch der Vater kommt manchmal
vorbei. Nach eineinhalb Jahren zieht die Mutter wieder fort. Es gibt viele
Protagonisten in diesem Dorf, am Anfang heftig viel. Doch irgendwann,
im Lauf der Jahre lernt der Leser sie kennen. Alte sterben, Babys
werden geboren, man sieht sie aufwachsen. Alte wollen nicht aus dem
Haus ziehen, trotz aller Unwegsamkeit. Einige heiraten, andere lassen
sich scheiden, Träume, Versuche, Geschäfte aufzubauen, manches
gelingt, anderes nicht. Ein Abbild unserer Gesellschaft: Stadtflucht. Aber
auch Städter, versuchen auf dem Land ihr Glück. Die Zeiten sind
schwierig, irgendwie versucht jeder zu überleben. Und immer wieder die
13! Das Unglück schwebt über allem.
»Der Sommer war verregnet gewesen, aber im September klärte es auf,
und der Schlamm auf den Feldwegen trocknete zu dicken Furchen. Unter
den Buchen hinter dem Close saßen Springschwänze, die sich durch das
bröseliger Laub am Boden bohrten, und irgendwo tief unter der
Laubschicht legte ein Männchen seine Spermien ab.«
Jon McGregor schreibt wellenartig, monoton, in kurzen Sequenzen, völlig
unaufgeregt beobachtet er. Mensch, Tier, Pflanzen im Einklang mit der
Natur, fasst ein Jahr manchmal in zwei, drei Seiten zusammen und alles
ist gesagt. Er schafft es in einem Satz, Natur und die Ereignisse in zwei
Familien zusammenzufassen, präzise, kompakt, aber mit Empathie.
Jahreszeiten werden durch immer wiederkehrende prägnante
Beschreibungen sichtbar: Die Schwalben bauen Nester, Ernte wird
eingefahren, kalter frostiger Wind, Boden gefriert, Lämmer werden
geboren, geschoren, es war ein gutes Jahr für Haselnüsse, es war ein
gutes Jahr für Hagebutten usw., eine Vokabel reicht, und der Leser
fühlt, riecht, schmeckt. Die Sprache ist rhythmisch, bewegt sich
wellenartig, lang, kurz, eine Woge bricht herein, Beruhigung. Genauso
wird die Geschichte erzählt, kurz, lang, zwischendurch ein Kracher.
»Das vermisste Mädchen hieß Rebecca, oder Becky, oder Bex.«
Ein Satz, der immer wieder auftaucht. Irgendetwas erinnert immer
wieder an sie. Ein verrottetes Absperrband in einem Busch, eine
Erinnerung, ein spätes Geständnis, der Vater taucht wieder mal auf …
Fährten werden dem Leser von Jon McGregor präsentiert, komische
Typen, ein Kapuzenpullover, eine blaue Weste, Geständnisse, ein
merkwürdiger Heizungskeller. Der Leser will den Fall abschließen, wie
auch die Dorfbewohner. Am Ende des Romans sind 10 Jahre ins Land
gegangen.
Jon McGregor, auf den Bermudainseln geboren und wuchs in der
Grafschaft Norfolk auf. Er hat einen Erzählungsband und vier Romane
veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet worden ist, u.a. mit
dem »Somerset Maugham Award«, dem »Betty Trask Award« und dem«
International Dublin Literary Award«. Dieser Roman »Reservoir 13« war
2017 für den »Booker Prize« nominiert.
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Rezension
Speicher 13
von Jon McGregor