Autorin
Sabine Ibing
»Der Tod war überall. Das hatte Suleika schon in der Kindheit begriffen. Sie
gewöhnte sich an diesen Gedanken wie der Ochse an das Joch und das
Pferd an die Stimme seines Herrn. Der Tod war allgegenwärtig, er war
schlauer, klüger und stärker als das dumme Leben, das den Kampf immer
verlor.«
Ein Titel, der mich nicht ansprach, aber ein Klappentext, der mein Interesse
weckte, ein Roman, ausgezeichnet mit mehreren Preisen, bereits in 21
Sprachen übersetzt. Die Tatarin Gusel Jachina schrieb dieses Buch
ausgehend von den Erzählungen ihrer Großmutter mit russischem
Erzähltalent der alten Tradition. Die Krimtataren, stolz, muslimisch und
aufsässig, wollten sich nicht der kommunistischen Vereinnahmung
unterwerfen und wurden nach Sibirien deportiert.
»Du kannst überhaupt nichts. Weder schlagen noch töten noch lieben.
Nein, du wirst nie richtig leben. Mit einem Wort, du bist und bleibst ein
nasses Huhn.« (Suleikas Schwiegermutter)
Während der stalinistischen Zeit der Sowjetunion lebt die Tatarin Suleika
mit Ehemann und Schwiegermutter recht begütert auf einem Gehöft.
Suleika hat es nicht einfach unter der boshaften Schwiegermutter, die sie
schwer schuften lässt, einem Ehemann, gewalttätig, der sie als Eigentum
betrachtet. Eines Tages reiten die Genossen ein, beschlagnahmen das
Gehöft im Rahmen der Zwangskollektivierung. Suleikas Ehemann will sich
das nicht gefallen lassen, wird getötet, die Schwiegermutter, ein altes
Weib, lässt man hilflos zurück, Suleika wird mit dem Vieh in den Tross
getrieben, das Land zu verlassen.
»Suleika hat es so satt zu leiden. An dem Hunger, an den Bauchkrämpfen,
an der Kälte bei Nacht. An den Schmerzen in den Knochen am Morgen, an
den Läusen und an der ständigen Übelkeit An all dem Schmerz und Tod
ringsum. An der Furcht, dass es noch schlechter werden könnte und - das
Schlimmste - an der nicht enden wollenden Scham.«
Fußmärsche, monatelange Reisen in Viehwagons, ein Ausharren in einem
Deportationslager unter unmenschlichen Bedingungen und Kälte folgt. Die
Gruppe wird aufgefüllt mit der Leningrader Bourgeoisie und weiter geht es
per Bahn Richtung Sibirien. Viele Menschen sterben unterwegs, weil sie von
Hunger und Kälte geschwächt sind. Zum Schluss geht es weiter per Schiff
ins tiefste Sibirien. Ein Boot kentert. Von den rund 800 Deportierten
kommen nur 30 Personen an. Mitten in der Natur, am Fluss Angara werden
die Menschen ausgesetzt, sollen unter Kommandant Ignatows Leitung eine
Siedlung errichten. Selbst ein Plansoll wird vorgegeben, wenig Lebensmittel
und Handwerkszeug händigt man ihnen aus. Suleika bringt ihren Sohn zur
Welt. Es gilt den Winter zu überleben, ein Boot mit Nachschub wird erst im
nächsten Jahr erwartet.
Der Staat erwartet, dass diese Menschen hier heimisch werden, eine
Kolchose gründen. Nur wie und mit was? Nicht jeder wird dem gewachsen
sein. Das Buch umfasst eine Zeit von 15 Jahren, weitere Deportierte
kommen an, die Siedlung organisiert sich, wächst. Den Menschen bleibt
nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal zu arrangieren unter
harten Bedingungen noch härter zu arbeiten. Ignatow, der Mörder von
Suleikas Mann, hofft, dass er nach einem Jahr als Kommandant abgelöst
wird. Suleika entdeckt sich selbst, neue Möglichkeiten eröffnen sich für sie.
Sie geht dem Doktor zur Hand, lernt die Krankenpflege und sie zeigt
Geschick bei der Jagd, gehört dem Jägerteam an, das die karge
Kolchosküche mit Wildbret bereichert.
Die erste Hälfte des Romans zeigt die brutale Wirklichkeit der Deportation,
den grausamen Gulag, ein entbehrungsreiches Leben, Tote um Tote. Im
letzten Drittel erinnert die Geschichte ein wenig an
Lederstumpfgeschichten, Abenteuer, Busch-Romantik, auch die Kunst darf
nicht fehlen. Der anfänglich als dement beschriebene Professor ist
plötzlich wieder ein helles Köpfchen, betreibt ein hervorragendes Lazarett,
das weit im Land bekannt wird. Im Frühjahr flattern frisch gewaschene
Gardinen im Wind, es duftet nach Jasmin, «Es riecht nach Rauch, Badehaus,
frisch gehobeltem Holz, Milch und Plinsen.« Suleika entgleitet als
Nebenfigur, Ignatow tritt in den Vordergrund und die Schönfärbung des
Lagerlebens. Frischluft, Natur, nette Menschen, wie schön ist das Kollektiv.
Schade, dass zum Ende die Entkulakisierung schöngeredet wird. Aber
vielleicht muss man sein Schicksal idealisieren, um ein wenig Zufriedenheit
zu erreichen. Der Roman beruht, wie Gusel Jachina in einem Interview
sagte, zu Teilen auf den Erlebnissen und Erzählungen ihrer Großmutter.
1929 missbilligte Stalin alle Überlegungen, Kulaken (Bauern) in Kolchosen zu
integrieren. Er kündigte er die «Liquidierung des Kulakentums als Klasse«
an, rief zur »Offensive gegen die kapitalistischen Elemente des Dorfes«
auf, zündete sozusagen einen Krieg gegen die Bauern, beziehungsweise
gegen das »Dorf« an. 1930 begann in vielen Gegenden die massenhafte
Entkulakisierung, wie im Ural, in Transkaukasien, in der Ukrainischen
Sozialistischen Sowjetrepublik und in der Oblast Rjasan nahe Moskau. Über
drei Millionen wohlhabender Bauern wurden enteignet und ins Exil
verfrachtet. Die Tataren-Khanat der Krim waren über 300 Jahre lang ein
kriegerischer Nachbar der Russen, ein legendärer Erzfeind. Unter
Katharina der Großen wurde die Krim besiegt, zum russisches Protektorat
erklärt. Aus ganz Europa warb man Bauern zur Besiedlung an, auch viele
Deutsche, die mit Privilegien ausgestattet wurden. Die Krimtataren stellten
sich in den 30-gern auf die Seite der Deutschen und Stalins Rache folgte
1945: 160.000 bis 400.000 Menschen wurden in 45 Züge gestopft und nach
Sibirien transportiert, »Saboteure, Drückeberger und Simulanten«. Anastas
Mikojan aus dem Politbüro schlug vor, den Deportierten Saatgut
mitzugeben. Stalin entließ ihn als Volkskommissar für Versorgung, „Mikojan
verhält sich staatsfeindlich“. Stalins Rache gegen den Erzfeind war
unerbittlich. Erst in den 80-gern durften einige Deportierte zurück in die
Heimat kehren.
Der Roman setzt sich mit der grausamen Zeit der Stalin-Ära auseinander.
Millionen von Menschen starben, verloren ihre Heimat. Ein grausames
Kapitel der Geschichte: Die Zerschlagung des Bauerntums und der Dörfer,
des Privateigentums. Die Kolchosen besaßen Massenunterkünfte,
Kolchosküchen, Privateigentum war nicht erlaubt, Grund und Boden
gehörtem dem Staat. Die Autorin erinnert daran und zeigt gleichzeitig, was
Menschen aushalten, wenn sie müssen, die Widerstandskraft der einen,
das Zerbrechen der anderen. Erzählerisch breit angelegt, im Stil der
russischen Epiker, ein dicker Band, der mir insgesamt gut gefallen hat.
Historisch wichtig, daran zu erinnern, wie viele Menschenleben die Stalin-
Ära kostete und wie viele Menschen ihre Heimat verloren. Der Schluss war
mir zu bieder, zu verklärt, aber das ist Geschmackssache.
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Rezension
Suleika öffnet die Augen
von Gusel Jachina