Autorin
Sabine Ibing
Bücher, die mir selbst gut gefallen haben
zeitgenössische Romane
Rezension
Wer die Nachtigall stört
von Lee Harper
Hörbuch, 12 Stunden, 22 Minuten gesprochen
von Eva Mattes
„Man kann einen anderen nur richtig verstehen, wenn man die Dinge von
seinem Gesichtspunkt aus betrachtet“, hatte Atticus seiner Tochter früh im
Roman gesagt. „Wenn man in seine Haut steigt und darin herumläuft.“
Ich hatte diesen Roman mit 14 Jahren voller Begeisterung gelesen und wollte
nun sehen, was von dieser Begeisterung nach über 40 Jahren übriggeblieben
ist. Das Buch hat mich immer noch verzaubert. Wir befinden uns in Alabama.
Aus der Sicht von Scout (Jean Louise), der kleinen Tochter von dem Anwalt
Atticus Finch wird berichtet, wie die Familie mutterlos lebt, versorgt von der
farbigen Haushälterin Calpurnia. Scouts Bruder Jam ist ein wenig älter und
reifer, etwa 10 Jahre alt. Scout mag ein Zweitklässlerin sein. Atticus erzählt zu
Hause von seinen Fällen, ist ein äußerst liberaler Mann, lehrt seine Kinder
Respekt vor jedermann zu haben und bringt immer weise Lebensweisheiten
und juristische Finessen mit nach Hause. Eines Tages übernimmt Atticus die
Verteidigung eins Farbigen, was natürlich Ärger für die Familie bedeutet. Denn
dieser Neger soll angeblich eine weiße Frau vergewaltigt haben. Toms
Unschuld ist offensichtlich. Trotzdem verlangt die Bevölkerung, dass er zum
Tode verurteilt wird. So einen verteidigt man nicht! Atticus schon. Die Familie
wird nun angefeindet, selbst die Kinder in der Schule. Der Vater wird bespuckt
und beschimpft. Die Kinder verstehen die Worte nicht, lassen sie sich von der
schwarzen Haushälterin erklären. Auch ein hübscher literarischer Kniff.
Und wir haben als Nebenstrang den scheuen Nachbarn der Finchs, Boo Radley
als zentrale Figur im Roman, der Jem und Jean Louise das Leben das Leben
retten wird. Der Typ, der niemals das Haus verlässt und darum so interessant
und rätselhaft für die Kinder ist. Die Geschwister versuchen hinter das
Geheimnis von Boo von kommen, den sie noch nie zu Gesicht bekommen
haben, denken sich wilde Geschichten um ihn aus. Wer zu nah an das Haus
kommt, den schnappt er, so sagen die Kinder! Und es ist eine Mutprobe für die
Jungen bis an das Haus zu gehen.
Reizvoll an der ganzen Geschichte ist die Sichtweise der kleinen Scout, aus
deren altklugen Sicht die Story erzählt wird. Scout ist mutig und unverdorben,
die Familie schert sich nicht um gesellschaftliche Ressentiments und so
verstehen die Kinder viele Handlungen nicht, die für sie selbstverständlich
unlogisch sind, insbesondere, wenn man so liberal aufgewachsen ist. Scout
hinterfragt in ihrer naiven Art die Erwachsenen und stellt sie damit bloß. Ein
schriftstellerischer Kniff, der hier wohlgelungen ist.
Die Finch’s leben in einer Kleinstadt und hier bezahlt man seinen Anwalt nicht
immer mit Barem. Auch nicht alle Kinder besuchen die Schule oder haben
Schuhe. Sie müssten natürlich den Unterricht besuchen, aber auf der Farm ist
zu viel zu tun, sodass die Eltern sie gehenlassen könnten. Das wird auch von
der Lehrerin toleriert, Hauptsache, sie erscheinen am ersten Schultag zur
Einschreibung. Auch grobe, ungebildete Menschen haben ein Herz, tun Dinge,
die sie tun müssen, ohne dass man gleich versteht warum. Jeder Mensch hat
Stärken und er hat Schwächen, etwas was Atticus seinen Kindern zu vermitteln
sucht. Das Buch spielt um 1935 im tiefsten Süden der USA und ist somit gesehen
revolutionär. Atticus ist eine fast undenkbare Figur. Er steht aber gleichzeitig
für Unbeugsamkeit und innere Kraft, für Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Er
ist das Symbol für Moral, den aufrechten Menschen. Und damit kann der
kleine, zierliche Mann den großen, kräftigen Tölpeln Angst machen. Und stellt
sich dann ein kleines Mädchen dazwischen, kann man eine ganze Lynchbande
in die Flucht schlagen, kraft moralischer Instanz. Im Original heißt das Buch „To
kill a Mockinbird“. Scout bekommt von der Haushälterin erklärt, dass es Sünde
sei, eine Nachtigall zu töten, da dieser Vogel niemandem Böses tut, nur dazu
da sei, den Menschen Freude zu machen. Es sei eine Sünde, etwas zu töten,
das unschuldig ist. Die Nachtigall steht für die Unschuld, für die Unschuld eines
Menschen. Eine realistische Figur ist Atticus für seine Zeit nicht. Er ist ein
Symbol. Schwarz-Weiß kann man austauschen. Hier geht es um
Machtmissbrauch, Rassismus und um Vorurteile. Ein Stoff, der immer aktuell
bleiben wird.
Die Sprache ist bildhaft-poetisch. Trotz aller Gefährlichkeit der Lage bleibt die
Fröhlichkeit von Scout im Vordergrund, denn sie begreift den Ernst und die
Tragweite des Prozesses nicht. Alle Figuren sind fein herausgearbeitet, mit
allen Facetten.
Harper Lee bekam den Pulitzer-Preis für das Buch. Es wurde sofort verfilmt,
mit Gregory Peck, der dafür einen Oscar erhielt. Der Roman wurde
Schullektüre, millionenfach verkauft auf der ganzen Welt. Ein Stoff bei dem
sich viele konservative Weiße in den USA auf den Schlips getreten fühlen, bis
heute. Darum wurde der Roman an manchen Schulbibliotheken aussortiert.
Harper Lees Freundschaft zu dem legendären Truman Capote (Schriftsteller,
Drehbuchautor, Schauspieler) bis in die Kinderzeiten ist bekannt. Er ist der alte
Nachbarssohn. Das Buch ist zum Teil sehr autobiografisch. Scout ist Harper
Lee; Dill, der kleine, von seinen Eltern verlassene Bursche, ist Truman Capote;
das Maycomb genannte Städtchen ist Monroeville, und auch Boo Radley, der
Nachbar, der das Haus nie verlässt, ist bekannt: Alfred Boleware. Der war von
seinem extrem religiösen Vater nach einer kleinen Missetat zu lebenslangem
Hausarrest eingesperrt worden. Angeblich soll die Familie Boleware gegen das
Buch geklagt haben, weil sie dort verunglimpftlicht wurden, haben den Prozess
verloren. Die Erstversion des Romans ist die Tage veröffentlicht worden. Der
Verlag hat das Manuskript damals zur Bearbeitung zurückgegeben und
gemeint, es sei zu unstrukturiert. Angeblich kam der Tipp zu der sechsjährigen
Scout von Capote und er soll große Teile des Romans umgeschrieben haben
und es sei eigentlich sein Erfolg. In der Erstversion ist Scout erwachsen und
blickt zurück auf ihre Kindheit und den Prozess, ein Buch, das um Längen
hinter der veröffentlichten Version zurückliegen soll. Ich werde dem Verlag
nicht den Gefallen tun, die Neuauflage dessen zu lesen, was man damals in
der Schublade verschwinden ließ. Harper Lee hat nur dies eine Buch
geschrieben und lebt, soweit sie noch lebt, sehr zurückgezogen. Ein
sagenumwobenes Buch. Warum hat Lee nie einen weiteren Roman
geschrieben und was hat Capote zu dem Manuskript dazugetan? Vielleicht
auch gar nichts. Denn der blasierte Narzisst war ziemlich eifersüchtig auf
Harper Lees Pulitzer-Preis. Ich denke, er hätte es herausgeblasen, wenn er die
Finger im Spiel gehabt hätte. Er hat es nur nie abgestritten, bestätigt hat er es
nie. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Andererseits weiß man heute,
nach Capotes Tod, dass die "liebe kleine Nelle", wie er sie nannte, erheblichen
Anteil an seinem Manuskript, "Kaltblütig", hatte.
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