Autorin
Sabine Ibing
Interview mit
Michael Fischer
(von Sabine Ibing)
Michael Fischer, Sachbuchautor, arbeitete bis 2011 im Management
verschiedener Discounter. Als Verkaufs- und Bereichsleiter stand
er dreizehn Jahre lang bis zu 75 Filialen vor. In seinem Buch
berichtet er über seine Erfahrungen bei Penny und Norma, von
seinem Job als Leiter eines Lidl-Warenverteilzentrums in der
Schweiz. Fischer kündigte, weil er physisch und psychisch fertig
war. Sein Buch, » Der Sinn des Lebens«, das er unter dem
Pseudonym Casimir Brown schrieb, kann man als
Auseinandersetzung mit dem System bezeichnen. Heute arbeitet
er im Management eines internationalen
Konsumgüterherstellers.
S. I.: Michael, ich würde gern mit einem Zitat von dir beginnen. Es
geht um die Einarbeitungsphase von Führungskräften im
Discounterbereich: »... die sogenannte Filialphase, das heißt eine
Filiale führen. Da geht es nicht darum, das Unternehmen
kennenzulernen. Da geht es darum, die Leute zu brechen. »Die
müssen erst mal im Schlamm liegen, die müssen fertiggemacht
werden - und wenn sie es überleben, dann behalten wir sie, hat
mir einer meiner Vorgesetzten mal gesagt.«
Das System erinnert an die Ausbildung von Soldaten. Erzähle uns
mehr davon.
M. F.: In den ersten beiden Discountern war es tatsächlich so.
Eine Neuverfilmung von „Full metal jacket.“ Erst eine knallharte
Grundausbildung mit einem durchgeknallten Chef und
anschliessend die Entlassung in den Wahnsinn des Krieges.
Bereits beim Vorstellungsgespräch sagten wir den jungen
Nachwuchsführungskräften, dass eine harte Einarbeitungszeit
auf sie wartet und sie vor allem in der Filialphase einige Kilo
Körpergewicht verlieren werden. Die Philosophie war, die
Belastbarkeit des künftigen Bezirksleiters zu testen. Da boten sich
Filialen in sogenannten Problemvierteln oder unterbesetzte
Filialen an, um die Nachwuchskraft an seine Grenzen zu bringen.
Sie sollten ersteinmal Gras fressen und es war vollkommen egal,
ob sie täglich 14, 18 oder 20 Stunden arbeiteten. Gesetzliche
Arbeitszeitgesetze fanden bei diesem Personenkreis keine
Anwendung. Nur wer diese Wochen überlebte, durfte seine
Ausbildung zum Bezirksleiter fortsetzen. Neben der
ungewohnten körperlichen Anstrengung wurde noch ein
psychologischer Druck erzeugt. Jeden Tag kam irgendein
Vorgesetzter in die Filiale, um den Laden auseinanderzunehmen.
Nicht selten wurde dann die Nachwuchsführungskraft mal so
richtig zur Sau gemacht. Ich selbst erlebte das in meiner
Einarbeitungsphase im zweiten Discounter. Eine vollkommen
unterbesetzte Filiale in einem Problemviertel, mit vielen
Arbeitslosen und Drogenabhängigen. Ich arbeitete oftmals in der
Nacht oder am Sonntag. Am letzten Tag war ich vollkommen
fertig und konnte meine zerschnittenen Hände nicht mehr zu
einer Faust bilden. Als ich den letzten Karton Gurken ins Regal
räumte, dachte ich nur noch, dass ich jetzt einfach nach vorne
kippe und liegen bleibe, ich konnte einfach nicht mehr. Das war
richtig übel.
S. I.: Du beschreibst in deinem Buch deine Karriere, deine
Alkoholabhängigkeit, Tablettensucht bis zum Zusammenbruch. Du
arbeitest wieder im Handel. Was machst du nun anders?
M. F.: Mein letzter Alkohol- und Medikamentenrückfall dauerte
ununterbrochen 3 Wochen. Abends zwei Flaschen Wodka und am
Morgen Barbiturate oder Amphetamine. Am Schluss war ich
vollkommen fertig und das war der Moment, wo ich aufgab, ich
war nicht mehr bereit, weiter zu kämpfen. Ich saß vor dem
Computer, mit einer Flasche Wodka in der Hand und schaute ein
Rammstein Konzert auf meinem PC. In der Vergangenheit war ich
wegen meiner Suchterkrankung bereits 26 mal stationär in
Kliniken und trotzdem war ich nicht zu bändigen. An diesem
besagten Montag war ich körperlich und seelisch ausgebrannt
und ich glaube heute, dass ich damals dem Tod so nah war, wie
nie zuvor. Widerstandslos ließ ich mich in die geschlossene
Abteilung der naheliegenden Psychiatrie fahren und das war bis
heute der letzte Tag, an dem ich Alkohol getrunken habe.
Seit damals habe ich mein Leben vollkommen geändert. Ich habe
mich einige Jahre sehr aus dem öffentlichen Leben
zurückgezogen, bin abends nicht weggegangen und habe
sämtliche früheren Kontakte abgebrochen. Ich habe mein
früheres Leben beerdigt und ein vollkommen Neues begonnen.
Ich behaupte heute, dass einem Suchtkranken überhaupt nichts
anderes übrig bleibt, als sein bisheriges Leben komplett
umzukrempeln. Macht er das nicht, wird er niemals auf
längereZeit abstinent leben können. Hättest Du mir vor 10 Jahren
gesagt, dass ich einmal so leben werde wie heute, hätte ich Dir
mitgeteilt, dass ich mich vorher umbringen würde, bevor ich solch
ein langweiliges Leben lebe. Es scheint so, als hätte ich zwei
Leben gelebt, die nichts miteinander zu tun haben. Ich habe
etwas gefunden, was nur wenigen Menschen widerfährt:
Absoluten Frieden und Ruhe, viele bezeichnen mich heute als
tiefenentspannt. Früher wurde ich einfach nicht satt und nichts
konnte meinen Hunger stillen. Alkohol, Drogen, Beziehungen oder
Kaufen, nichts konnte mir den erwünschten Kick geben. Wie ein
wildes Tier jagte ich durch die Jahre, ohne einmal satt zu werden.
Ich war nicht zu bändigen, sei es durch 27 stationäre Aufenthalte
oder unzählige ambulante Therapien.
Ein Arztbesuch bei einem Internisten wegen einer Erkältung
leitete diese unglaubliche Veränderung in meinem Leben ein. Ich
werde auch nicht müde zu betonen, dass ich schlichtweg nichts
dafür kann, dass ich heute so leben darf. Ich wurde durch die
Jahrzehnte gespült und hätte schon längst tot sein müssen.
Begriffe wie Glück oder Zufall finden keine Anwendung mehr,
denn so viel Glück gibt es in der Realität nicht.
Genau diese Erkenntnis brachte mich dazu, mein erstes Buch zu
schreiben. Eigentlich sind es drei Bücher in einem, Sucht,
deutscher Discount und eine Überlegung zu dem Sinn unseres
Lebens. Sozusagen der Startschuss zu drei weiteren Büchern, die
jeweils eines dieser Themen intensiv behandeln wird.
Natürlich habe ich auch meine Einstellung zur Arbeit verändert.
Karriere und daraus resultierende Statussymbole, interessieren
mich im Gegensatz zu meiner Vergangenheit, überhaupt nicht
mehr. Die grösste Veränderung ist aber, dass ich absolut ehrlich
bin und meine Meinung sage. Die täglichen Theateraufführungen
mache ich nicht mehr mit. Natürlich bin ich dadurch ein
„schwarzes Schaf“, aber ich bin zuversichtlich, dass andere
Menschen folgen werden.
Der erste Schritt zu einer Veränderung war die Veröffentlichung
meines Buches. Aber auch das war ein Prozess. Zunächst habe ich
es unter dem Pseudonym Casimir Brown veröffentlicht. Als es
erschienen war, dachte ich mir, dass es Blödsinn sei, nicht meinen
wirklichen Namen zu nennen. Also, ich heiße Michael Fischer, bin
im gehobenen Management tätig und bin alkohol- und
medikamentenabhängig. Und was ich passiert? Nichts, ich habe
meinen Job noch und meine Mitarbeiter respektieren mich noch
genauso. Bisher habe ich keine negative Erfahrung gemacht.
Natürlich kann es sein, dass mir einige nicht die Wahrheit ins
Gesicht sagen, aber ehrlich gesagt, ist mir das auch komplett
egal, es ist dann deren Problem und sicherlich nicht meins. Es
wird Zeit für eine Veränderung in unserem Leben und diese
Veränderung fängt mit der Wahrheit an. Jeder Mensch hat
Probleme, Ängste oder Süchte. Warum nicht einfach dazu stehen,
warum nicht einfach dieses tägliche Schauspiel beenden?
Wenn man sich oder seine Umwelt verändern will, ist die
unumstössliche Voraussetzung einfach nur ehrlich zu sein.
S. I.: Warum bist du in der Schweiz geblieben?
M. F.: Freiwillig möchte ich nie mehr zurück nach Deutschland. Ich
liebe die Schweiz und habe hier richtig tolle Menschen kennen
gelernt. Sei es auf der Arbeit oder privat. Es ist einfach ruhiger
und gemächlicher, nicht so viel Hektik und Stress.
S. I.: Mit Psychoterror gegen unerwünschte Mitarbeiter
vorzugehen, ist ein beliebtes Spiel im Lebensmittel-Einzelhandel.
Arbeiten bis der Arzt kommt, strammstehen, Stiefel lecken. Ich
beziehe das mal aus Erfahrung über die gesamte Branche. Fällt
dir eine Möglichkeit ein, wie man den Kreislauf durchbrechen
kann, damit das endlich aufhört?
M. F.: Es ist bemerkenswert, wieviel Kraft und Energie
aufgewandt werden, um in der Arbeitswelt etwas anderes
darzustellen, als man in Wirklichkeit ist. Jeden Morgen schlüpfen
wir in unsere Rollen und wir sind einfach nicht wir selbst. Bevor
wir zugeben, dass wir aufgeregt oder ängstlich sind, investieren
wir lieber viel Geld in Therapien und Managementkurse. Angst
oder Nervosität könnten ja als Schwäche interpretiert werden.
Wir werfen unsere Persönlichkeiten über Bord, um den richtigen
„Arsch zu küssen“. Wir lassen uns deshalb demütigen und quälen.
Über die Jahre lösen sich unsere Persönlichkeiten in einem
Einheitsbrei auf und am Ende wissen wir nicht mehr, wer wir
eigentlich sind. Und warum machen wir das? Weil es alle so
machen, aus Angst. Angst den Job zu verlieren, Angst keine
Karriere zu machen, Angst vor einem Imageverlust.
Es heisst aber nicht, weil alle es ja so machen und es sich ja so
gehört, dass es richtig ist. Ich behaupte heute, dass wir uns das
alles getrost sparen können und wir lieber unser Engagement in
unsere Persönlichkeitsfindung investieren sollten. Karriere, Job
und Image sind keine existentiellen Probleme. Wie oft regen wir
uns auf der Arbeit und nach der Arbeit auf, zerfressen von
Kleinigkeiten. Wir geben anderen Menschen die totale Macht über
uns, so dass sie sogar unseren Schlaf rauben. Das alles ist nicht
existentiell für unser Leben. Wir leben auch ohne Job, Karriere
und finanzieller Sicherheit weiter. Und es wäre doch mehr als
ärgerlich, wenn ich mich jahrelang auf der Arbeit zu Affen mache
und plötzlich einfach tot umfalle. Und dann bekomme ich als
Dankeschön einen Blumenkranz von meiner Firma ins Grab
geschmissen und bereits wenige Monate später spricht schon
niemand mehr von mir. Nachfolger gibt es ja genug.
Die einzige Möglichkeit diesen Kreislauf zu unterbrechen, besteht
darin, zu seiner Persönlichkeit zu stehen. Man muss sich trauen,
die persönliche Meinung respektvoll zu sagen. Wir müssen uns
trauen, aus dem Kreislauf auszusteigen. Einfach aus dem Grund,
dass unser Leben viel zu wertvoll ist, als es im Theater zu
verbringen. Und wer will den ersten Stein werfen? Jeder Mensch,
den ich kenne, hat Probleme oder Ängste. Was spricht dagegen,
vor einem Vortrag seinen Kollegen zu sagen, dass man furchtbar
nervös ist. Was spricht dagegen, seinem Chef zu sagen, dass
man anderer Meinung ist? Was spricht dagegen, dass man
Probleme in seiner Beziehung hat? Was spricht dagegen, seinem
Kollegen gleich zu sagen, dass man sich über seine Äusserungen
geärgert hat, als im Anschluss hinter seinem Rücken zu lästern?
Es ist eine unglaubliche Befreiung, wenn man ehrlich sein kann
und sich nicht mehr verstecken muss. Das einzige, was jeden
Menschen interessieren sollte, ist der Weg zu sich selbst.
Will man also den Kreislauf unterbrechen, sollte man den Mut
haben sich gegen die Masse zu stellen und erstaunlicherweise
wird man sehr schnell feststellen, dass sich andere bereitwillig
anschliessen. Für mich sind zuerst die Führungskräfte gefragt
eine Änderung herbei zu führen.
Ich küsse heute keine Ärsche mehr und engagiere mich nicht
mehr in der beruflichen Politik, um meine Karriere zu fördern.
Warum? Ganz einfach, ich habe vielmehr Gefallen daran
gefunden, „Ich zu sein“ und die freigewordene Energie kann ich
wesentlich sinnvoller nutzen, als früher. Eine spannende Reise
hat begonnen und ich kann jeden nur auffordern es einmal zu
probieren.
S. I.: Ich habe in meiner Zeit als Sozialpädagogin Bildungscenter
der Erwachsenenbildung geleitet, zuletzt mit Schwerbehinderten
zur Wiedereingliederung gearbeitet. Führungskräfte aus dem
EZH-Lebensmittel waren ständig Gäste: Alkoholiker,
Kettenraucher, psychische Krankheiten, Rücken und Hüften
kaputt, Herzkreislauferkrankungen, oft alles in Kombination.
Warum macht man den Job über Jahre, ohne die Reißleine zu
ziehen?
M. F.: Am Anfang lassen sich viele von den guten
Arbeitskonditionen blenden. Ein stattliches Gehalt und ein
ansehnlicher Firmenwagen, lassen den einen oder anderen
Schmerz für die Führungskräfte im Discount vergessen. Die
Nachbarn und Verwandten sollen sehen, was man alles erreicht
hat. Es könnte ja Gerede geben, wenn ich nicht mindestens
zweimal im Jahr in die Karibik gefahren bin. Hypotheken und
Unterhalt müssen monatlich bezahlt werden. Ausserdem ist die
Welt halt so. Es ist ja normal, dass man täglich was auf die Fresse
bekommt. Wir haben ja überhaupt keine andere Wahl, als das
ganze Theater mitzumachen. Wenn ich meine Meinung sage, bin
ich gleich weg und so weiter.
Es gibt nicht wenige Führungskräfte, die Ihre ganze Persönlichkeit
aus Ihrer beruflichen Position definieren. Jeder Misserfolg wird
gleich als persönliche Niederlage gewertet. Der Selbstwert ist
abhängig von dem beruflichen Werdegang.
Irgendwann beherrscht einen die Arbeit. Die Folge sind dann
private Probleme, weil man nicht mehr abschalten kann.
Irgendwann wird der Wahnsinn dann Normalität und der
Betroffene realisiert überhaupt nicht mehr, was da eigentlich
passiert.
In den deutschen Discountern ist der Mensch ein Rohstoff, der
wenn er verbraucht ist, einfach durch einen neuen ersetzt wird.
Wieder zu verwertende Brennstoffe interessieren nicht. Ein
absolut menschenverachtendes System, das eben dann
zwangsläufig zu schweren persönlichen Problemen führt, sei es
pychisch oder physisch. Die Angestellten sehen oft keinen
Ausweg, dem zu entkommen und arbeiten bis zum
Zusammenbruch. Viele Führungskräfte lieben auch das Gefühl
der Macht und Überlegenheit und das können sie in der
Discountwelt bis zum Exzess ausleben.
Dann kommt noch ein weiterer Fakt zum Tragen. Über vierzig ist
es mittlerweile fast aussichtslos einen adäquaten Job in
Deutschland zu bekommen. Das heisst, dass vielen
Discountmitarbeitern einfach nichts anderes übrig bleibt, als bis
zum Umkippen zu arbeiten, da sie die Arbeitslosigkeit fürchten.
S. I.: Die jungen BWL’ler lockt man mit hohen Einstiegsgehältern
und Dienstwagen. Aldi zahlt Trainees schon 65.000 € im Jahr plus
Dienstwagen. Universität, Theorie, ist das Eine und dann die
krasse Wirklichkeit im Discounter. Wie geschockt sind die jungen
Leute und wie viele schmeißen schnell den Job?
M. F.: Zu meiner persönlichen Überraschung haben nur sehr
wenige selbst gekündigt. Die meisten sind gegangen worden. Am
Anfang herrscht eine gewisse Naivität vor. Viele von den
Absolventen haben in ihrem Leben noch nicht über einen
längeren Zeitraum gearbeitet und sie können sich nicht einmal
annähernd vorstellen, was sie erwartet.
Natürlich holt sie schnell die Realität ein, aber sie wollen zu diesem
Zeitpunkt auch nicht mehr auf die materiellen Vorteile
verzichten. Ausserdem ist es übliche Praxis, der jungen
Nachwuchskraft ein Würstchen vor die Nase zu halten. Sie sollen
durchhalten, eine baldige Beförderung ist bereits angedacht. Es
werden aber nur die Besten weiterkommen. Fatal, denn so wird
jeder Kollege bereits zu diesem Zeitpunkt als potentielle Gefahr
gesehen, was für die Kollegialität nicht gerade sehr förderlich ist.
Erst lassen sich die Hochschulabgänger blenden und kurz darauf
verarschen. Die besten Speichellecker werden schliesslich
befördert und die anderen in der Regel rausgeschmissen und
durch frische und motivierte Nachfolger ersetzt.
S. I.: Was macht das aus einem jungen Menschen, wenn er so ins
Berufsleben schliddert? Oder sind es bestimmte Typen, die genau
das suchen?
M. F.: Jeder junger Hochschulabsolvent verdient gerne viel Geld
und will ein schönes Auto. Das ist allzu menschlich. Daher würde
ich auch nicht von bestimmten Typen sprechen. Die
Nachwuchsführungskraft soll nicht denken, sondern ausführen
und zwar gnadenlos. Die Entscheidungen der
Unternehmensführung sind ohne Rücksicht auf Verluste
durchzusetzen. Die Absolventen lernen von Anfang an ein
perfides System kennen, das eigentlich sehr einfach funktioniert.
Der Unternehmensvorstand gibt den Geschäftsleitungen die Ziele
vor, verbunden mit der Bemerkung, werden die Zielvorgaben
nicht erreicht, wird der Geschäftsleiter entlassen. Der sagt sich,
bevor ich gehe, gehen ersteinmal die anderen. So gibt er seinen
Prokuristen die Vorgaben ungefiltert weiter, erneut mit dem
Hinweis, dass bei Nichterfüllung die Entlassung folgt. Und so geht
es munter weiter, bis zur Kassiererin und der Putzkraft. Jeder ist
sich selbst am Nächsten und er beseitigt alles gnadenlos, was ihm
auf dem Weg zum Ziel hinderlich erscheint. Es geht nicht um
Menschen, sondern um konsequente Zielerreichung.
Dieses System macht aus den Nachwuchsführungskräfte
egoistische, intrigante und menschenverachtende
Persönlichkeiten. Nur die wenigsten bleiben sich über die Jahre
hinweg treu. In 13 Jahren Führungstätigkeit im Discount kann ich
die Leute an einer Hand abzählen. Die meisten entwickeln sich zu
regelrechten Charakterschweinen.
S. I.: Überwachung von Mitarbeitern, auch ein Thema, ein
zweischneidiges. Nirgends wird so viel geklaut wie im
Einzelhandel. Die Mitarbeiter sind dreister als die Kunden und da
meine ich nicht den Apfel. Es gibt systematische Banden, die vom
Lagerchef, über Fahrer bis zum Abteilungsleiter
zusammenarbeiten. Gibt es eine Möglichkeit das in Griff zu
bekommen, ohne alle Mitarbeiter unter Generalverdacht zu
stellen?
M. F.: Ich glaube, dass ein Mitarbeiter der fair behandelt und fair
bezahlt wird, der sich in einer Unternehmung wohlfühlt, nicht auf
die Idee kommt, Ware zu entwenden. Die Realität in deutschen
Discountern ist aber oft eine andere. Stellen Sie sich eine
Mitarbeiterin vor, deren Arbeitstag um 6 Uhr beginnt und bis 19
Uhr dauert. Im schlimmsten Fall ist sie alleine in der Filiale, weil die
Kollegin krank geworden ist. Sie hetzt den ganzen Tag von Kasse
zu Backstation, verräumt zwischendurch die Filiallieferung, um
dann noch schnell TK-Ware zu verräumen. Am Nachmittag sitzt
sie vollkommen abgekämpft in der Kasse, als der Revisionsleiter
in seinem neuen A8 vorfährt. Der ist mit der Filiale sehr
unzufrieden und den Einwand einer engen Personalsituation lässt
er nicht gelten. Er macht die Kassiererin erst einmal richtig zur
Sau und droht ihr mit Entlassung. Dann ruft der Revisionsleiter
den zuständigen Verkaufsleiter an und schreit den ersteinmal
zusammen. Am Schluss kommt der Bezirksleiter in die Filiale und
droht der Mitarbeiterin, er werde sie im Widerholungsfall
entlassen. „Bevor ich gehe, werden Sie gehen, das verspreche ich
Ihnen!“ Da wird dann auch schon einmal das Gehalt der
Kassierein lautstark zurückgefordert. Alles hat ein Ende, so auch
der Arbeitstag der gebeutelten Filialmitarbeiterin. Am Abend darf
sie sich dann eine grosse 1 in die Anwesenheitsliste eintragen. 1
bedeutet 8,25 Stunden, der Rest ist ein Geschenk an die
Unternehmensleitung. Es ist menschlich, dass die Kassierein
wütend ist und sich abends vor dem Schlafengehen sagt:“ Na
wartet ab, Euch zeige ich es noch.“Sie fängt an Ware zu stehlen,
sozusagen als persönliche Wiedergutmachung. In den deutschen
Discountern gibt es täglich unzählige Personaldiebstähle,
begründet in Frust und Wut.
Es wird natürlich immer negative Ausnahmen geben, aber die
meisten kriminellen Aktivitäten liessen sich sehr einfach
abstellen:
1.
Kein Mitarbeiter wird angeschrien oder bedroht, er
wird menschlich behandelt
2.
Der Mitarbeiter bekommt die Arbeitszeit gutgebracht,
die er auch definitiv geleistet hat
3.
Sämtliche Arbeitsgesetze werden eingehalten
4.
Schaffen einer positiven Unternehmenskultur und
nicht ein Klima von Angst und Unterdrückung
5.
Jeder Mitarbeiter hat eine faire Chance, regulär in
Rente zu gehen
So könnten die Unternehmen übrigens Unmengen von Geld an
Überwachungsmaßnahmen sparen.
S. I.: Und dann haben wir den Beschiss am Kunden. Ich schaute
einmal auf den Kassenzettel, hatte ein größeres Teil für über 60 €
gekauft (für 45 im Angebot) und Angebote aus der
Gemüseabteilung lagen zum Normalpreis im Korb. Das waren
zusammen über 20 €! Der Marktleiter zuckte lapidar mit den
Schultern, Alkoholfahne lang und heftig. Habe die Preise noch
nicht umprogrammiert heute. Es war nach 18 Uhr. Ist das gängige
Praxis?
M. F.: In den ersten beiden Discountern war die Manipulation an
den Kassen gängige Praxis, um das Ergebnis der Filialinventur zu
verbessern. Die von der Zentrale vorgegebenen Inventurziele
waren von den Filialteams auf ehrlichem Wege nicht zu
erreichen. Wollte ein Filialleiter seinen Job behalten, war er
gezwungen manipulativ tätig zu werden. Eine Möglichkeit bietet
das Kassensystem Beispielsweise war es Usus, die Plastiktüten
nicht über den Scanner zu ziehen, sondern manuell mit einem
erhöhten Verkaufspreis einzutippen. Oder die Kassierein zog den
Artikel „aus Versehen“ zweimal über den Scanner. Es gab
Überpreise, beispielsweise bei Obst-und Gemüseartikeln. Die von
der Zentrale vorgesehenen Preise wurden einfach erhöht,
beispielsweise zahlte der Kunde für eine Melone einfach einen
Euro mehr. In der Regel merkten das die Kunden nicht, denn der
Filialleiter druckte einfach ein neues Preisschild und änderte den
Preis für die zugehörige PLU-Nummer im Master PC seines
Filialleiterbüros.
S. I.: Dein Buch ist ein Sachbuch, ein Erfahrungsbericht. War es
das jetzt oder hast du vor, weitere Bücher im Sachbuchbereich zu
veröffentlichen? Wo finden wir die Termine zu deinen Lesungen?
M. F.: Mein erstes Buch war der Startschuss und eigentlich sind
es drei Bücher in einem. Drei sehr umfangreiche Themen:
Suchterkrankungen, der deutsche Discount und der Sinn unseres
Lebens. „Der Sinn des Lebens“ gibt eigentlich nur einen groben
Überblick über die betreffenden Themen, ohne ins Detail zu
gehen, sozusagen ein kleiner Vorgeschmack, ein Startschuss. Auf
Grund der Komplexität habe ich entschieden jedem dieser
Themenbereiche ein eigenes Buch zu widmen. Das zweite Buch,
das ausschliesslich meine Tätigkeit in drei Discountern behandelt,
habe ich bereits in der Schublade. Ich werde es in den
kommenden Tagen diversen Verlagen zusenden. Dieses Buch
wird sich wesentlich detaillierter und angriffslustiger mit der
deutschen Handelslandschaft auseinandersetzen. Gerade
schreibe ich an dem dritten Buch, dass sich ausschliesslich mit
Suchterkrankungen, Panikattacken und Depressionen befasst.
Das wesentliche Kapitel, wird meinen Weg aus der Sucht
schildern, sowie einfache Grundsätze, ohne die eine
längerfristige Abstinenz überhaupt nicht möglich ist. Das vierte
Buch wird ein philosophisches Buch, dass sich detailliert mit dem
möglichen Sinn unseres Lebens auseinandersetzt.
Lesungen sind in nächster Zeit keine geplant. Das ist aber vor
allem dem Umstand geschuldet, dass ich alle bisherigen
Marketinmaßnahmen vollkommen alleine organisiert habe, sei es
der Kontakt zum SPIEGEL oder dem Fernsehen. Das ist der
Nachteil, wenn man bei einem kleinen Verlag publiziert. Da ich ja
nach wie vor im Management arbeite, ist das Buch mehr oder
weniger ein Hobby von mir und mir fehlt im Moment schlichtweg
die Zeit, mich gross mit dem Buchhandel zu befassen (Für
Lesungen etc.). Wobei ich das auf jeden Fall noch machen
möchte, vielleicht weniger als Lesung, sondern vielmehr als
Diskussion und Austausch.
S. I.: Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen.
Zu den anderen Interviews