© Sabine Ibing, Lorib GmbH         Literaturblog Sabine Ibing
Autorin Sabine Ibing
Interview mit Juli Zeh (von Sabine Ibing)   Juli Zeh, wurde 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig, Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht mit Promotion. Das Studium der Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig hatte Juli Zeh parallel zum Jurastudium absolviert. Sie wohnte in New York und Krakau. Ihr Debütroman „Adler und Engel” (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet: Preis der Humboldt Universität im Beitragswettbewerb "Recht und Wandel" (1999), Caroline Schlegel Preis für Essayistik (2000), Bremer Literaturpreis (2001), Rauriser Literaturpreis (2002), Deutscher Bücherpreis (2002), Hölderlin-Förderpreis (2003), Ernst-Toller-Preis (2003), Preis als Inselschreiber auf Sylt (2004), Per Olov Enquist Preis, Literaturpreis der Bonner LESE (2005), Prix Cévennes, Jürgen Bansemer & Ute Nyssen-Dramatikerpreis (2008), Carl-Amery- Literaturpreis (2009), Thomas-Mann-Preis (2013) Hoffmann-von- Fallersleben-Preis für zeitkritische Literatur (2014) und Hildegard- von-Bingen-Preis (2015). Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin ist Juli Zeh journalistisch bekannt. Sie schreibt u. a. Essays für Die Zeit, FAZ, Spiegel. Seit 2007 lebt Juli Zeh in einem Dorf im Havelland, Brandenburg, zuvor wohnte sie über viele Jahre in Leipzig. S.I.:   Gerne würde ich den Lesern Ihre Arbeiten vorstellen, denn Sie sind eine besondere Schriftstellerin. Mit Ihrem Gesellschaftsroman „Unterleuten“ haben Sie einen Bestseller gelandet. Er handelt von dem Dorf Unterleuten im Havelland. Eine gemischte Dorfstruktur und eine bewegte Geschichte geben dem Ort einen eigenen Mikrokosmus. Alteingesessene, die vom DDR-System in die Bundesrepublik stolperten, Seilschaften, Feindschaften, Städter, die ihren romantischen Traum vom Landleben verwirklichen möchten, Investoren, die wieder andere Interessen verfolgen. Das durchgehende Thema ist ein Windpark, der Geld in die leeren Dorfkassen spülen könnte, aber die Gemüter aufhetzt. Ein feines soziales Geflecht, skurrile Charaktere, Intrigen. Sie sagen, dieses kleine Dorf könne im Prinzip die ganze Welt abbilden. Warum? J.Z.:   Mir geht es um die Psychologie meiner Figuren und darum, wie ihr Denken, Fühlen und Handeln vom Zeitgeist bestimmt wird. Alle Personen in „Unterleuten“ sind gewissermaßen auf Identitätssuche. Entweder sie kommen wie Gombrowski und Kron aus einer alten Zeit, die nicht mehr existiert, und finden sich im neuen Jahrtausend nicht zurecht. Oder sie leiden unter der inneren Obdachlosigkeit, welche für das 21. Jahrhundert typisch ist. Insofern hätte der Roman genauso gut in der Stadt spielen können. Literatur hat die Fähigkeit, die Welt wie durch ein Brennglas zu betrachten. S.I.:   Ihr Verlag hat eine Website „Unterleuten“ angelegt. Dort kann man sich genau über das Dorf informieren mit Lageplan und Bewohnerbeschreibung. Sind das Ihre Skizzen, die Sie für den Roman angelegt haben, Ihre Ausarbeitungen zu den Charakteren? J.Z.:   Der Lageplan ist tatsächlich aus einer Skizze entwickelt worden, mit der ich mir beim Schreiben geholfen habe. Die Personenbeschreibungen habe ich entwickelt, nachdem der Roman schon fertig war. Es hat mir Spaß gemacht, noch einmal auf satirische Weise darzustellen, wer und was im Roman alles eine Rolle spielt. S.I.:   Es ist mittlerweile so ausgeartet, dass fiktive Websites entstanden sind wie:  Vogelschutzbund Unterleuten, die Windenergie-Firma VentoDirect (Slogan: "Hand in Hand mit den Behörden"), die Kneipe "Märkischer Landmann". Die Speisekarte führt Zanderfilet "Schiefe Kappe" mit Salzkartoffeln für 6,90 €, sowie den Käuterlikör Bromfelder (Geschmack nach Maschinenöl mit Eukalyptus). Alles ein Marketing-Gag? J.Z.:   Wenn man auf diese Weise Bücher verkaufen könnte, wäre das Verlagsgeschäft einfach. Mit Marketing hat das nichts zu tun, im Gegenteil war der Verlag anfänglich in Sorge, dass das große Spiel im Internet der Rezeption des Romans schaden könnte. Ich finde es übrigens sehr typisch für unsere Zeit und auch traurig, dass heutzutage hinter einem Kunstprojekt nichts weiter als „Marketing“ vermutet wird. Als könnten sich die Leute nicht mehr vorstellen, dass man etwas aus Spaß tut, aus Spieltrieb, oder aus aufklärerischen und gesellschaftspolitischen Gründen. Alle diese Antriebe spielen beim virtuellen Unterleuten eine Rolle. S.I.:   Und wer ist Manfred Gortz? Die Protagonistin Linda Franzen zitiert häufig aus seinem Buch "Dein Erfolg", das so etwas wie eine Bibel für sie darstellt: „Wir brauchen Benotung, Bewertung, Ranking und Ratings. Das allerdings schmeckt den Gutmenschen nicht, die sonst bei jeder Gelegenheit Demokratie und Chancengleichheit für alle fordern." Ich habe herzlich gelacht. Das Buch gibt es wirklich … - Nachdem alle nach Gortz fragten, haben Sie selbst schnell dieses Buch geschrieben. Es hat ein wenig gedauert, bis heraus war, wer hinter dem Ratgeber steckt. Hat es Ihnen Spaß gemacht, Leser und Journalisten ein wenig zu foppen? J.Z.:   Ehrlich gesagt glaubte ich, dass alle sofort merken, dass Manfred Gortz nicht echt sein kann sondern eine Kunstfigur ist. Es hat mich sehr überrascht, wie lange es gedauert hat, bis „enthüllt“ wurde, dass ich Manfred Gortz erfunden und sein Buch selbst geschrieben habe. Es hat eine Menge Spaß gemacht und ich habe viel darüber gelernt, welche Suggestivkraft die Virtualität heute besitzt. Was im Internet auftaucht, halten die Leute anscheinend zwingend für echt. S.I.:   Ihr Roman "Spieltrieb" (2004) wurde verfilmt. Ein Schüler manipuliert seine Freundin dahingehend, den Sportlehrer zu verführen. Der Junge nimmt das Geschehen auf Video auf und die beiden Jugendlichen erpressen nun den Lehrer mit dem Film. Er muss sich immer wieder mit ihnen zu Sexspielen treffen. Die Jugendlichen zerstören völlig das Leben des Lehrers, die Sache landet vor Gericht. Eine Geschichte um Macht und Abhängigkeit, Ausgrenzung, Moral. Die Moral in unserer Gesellschaft ändert sich derzeit, wir fahren teilweise rückwärts. Andere hätten gern das Mittelalter zurück, warum? J.Z.:   Das ist eine Auswirkung der oben erwähnten Identitätssuche. Wir stehen an einem Punkt, an dem die Aufklärung uns viele Sicherheiten genommen hat, zugunsten von Emanzipation und Individualisierung. Die Geschlechterrollen sind nicht mehr klar, Ideologien wurden dekonstriert, die Religion hat ihre gesellschaftliche Funktion weitgehend verloren, die Familie ist nicht mehr der Ort, an dem strenge Regeln gelten und so weiter. Das alles wollten wir mit gutem Grund ändern, aber wir haben wenig darüber nachgedacht, woher die Menschen eigentlich ihre Orientierung nehmen, wenn die vertrauten Muster weg sind. Nun sind die Leute auf der Suche, und einige wenden sich wieder alten Identitäten zu, zum Beispiel dem Versuch, zwischen „wir“ und „die“ zu unterscheiden, also eine nationale Identität neu zu beleben in Abgrenzung zu den „Fremden“. S.I.:   Der Krimi „Schilf“ wurde auch als Theaterstück aufgeführt. Eine sehr philosophische Geschichte: Zwei alte Studienfreunde, beide Physiker, gehen verschiedene Wege, der eine heiratet, wird Vater, der andere ist Junggeselle. Dem einen, Sebastian, wird vorgegaukelt, sein Sohn sei entführt worden. Das Lösegeld besteht darin, einen Mord zu begehen. Nach dem Tötungsdelikt stellt Sebastian fest, er ist einer Halluzination erlegen. Was ist hier Wahrheit, was Fiktion, der Fantasie des Lesers wird viel Raum gelassen. Ist Sebastian schuld im Sinn des Gesetzes oder moralisch? Was ist Moral, was Gesetz? Sie sind Juristin. Es heißt ja nicht umsonst: dem Gesetz nach schuldig … In welchem Zwiespalt steht ein Jurist bei seiner Arbeit? Das Gesetz ist weder gerecht noch moralisch. J.Z.:   Ich glaube, die meisten Juristen fühlen sich gar nicht im Zwiespalt, es sei denn, sie haben mal einen Fall, der tatsächlich auf der Grenze der Rechtsanwendung liegt und deshalb sehr schwer zu entscheiden ist. Der Zwiespalt besteht eher zwischen Recht und Gesellschaft, insofern als viele Menschen nicht gut verstehen, worum es in der Rechtspraxis geht – nämlich nicht um das Herstellen von subjektiver Gerechtigkeit, sondern um die Anwendung einer Technik, die unsere Gesellschaft als Rechtsstaat erhellt. Fast jeder, der einmal mit den Gerichten in Kontakt war, fühlt sich hinterher schlecht behandelt, manche stellen dann sogar den „Rechtsstaat“ in Frage, weil sie sich persönlich ungerecht behandelt fühlen. Es ist schade, dass weder in den Schulen noch in den Zeitungen oder Medien vermittelt wird, wie die Justiz eigentlich funktioniert. S.I.:   Das Buch und Theaterstück „Corpus Delicti“ ist ein Zukunftsroman. Im Jahr 2057 zwingt der Staat seine Bürger zu gesundheitlicher Prävention und behandelt selbst das Rauchen einer Zigarette als Straftat. Der Einzelne muss sein Sportprogramm absolvieren, in den Toiletten wird der Magensäuregehalt und anderes gemessen, um Krankheiten zu erfassen, zu kanalisieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Hauptperson, Mia Holl, zeigt Widerstand. Der Roman richtet sich gegen den Überwachungsstaat. Heute schließen Menschen freiwillig mit ihren Krankenkassen Verträge zur Überwachung ab, um Geld zu sparen, besitzen Apps, um sich selbst zu überwachen. Wohin soll dieser Kontrollwahn führen? J.Z.:   Meines Erachtens führt er in eine neue Form von Totalitarismus. Der Wunsch nach Sicherheit ist enorm geworden – wieder steckt das erwähnte Problem dahinter, dass die Menschen sich orientierungslos fühlen und deshalb ihre Angst vor der Zukunft übermächtig wird. Nun glauben sie, sich mit allen Mitteln absichern zu müssen gegen jedes erdenkliche Risisko. Das widerspricht klar unser Vorstellung vom freien und mündigen Individuum, und diese Vorstellung ist die Grundlage der demokratischen Staatsform. Von daher beginnen Bürgermentalität und System auseinanderzudriften, was man ja auch deutlich sieht, zum Beispiel in Phänomenen wie der „Politikverdrossenheit“. S.I.:   Ist es so wahnsinnig wichtig, zwei bis drei Jahre länger zu leben, mit ständigem Verzicht und Kontrolle? Oder lebt vielleicht doch der unkontrollierte Mensch länger, weil er glücklich ist? J.Z.:   Aus meiner Sicht kann Sicherheit nicht das oberste Gebot eines glücklichen Lebens sein, denn Sicherheit ist nicht herstellbar. Wir Menschen müssen lernen, gewisse Risiken auszuhalten, auch müssen wir die eigene Sterblichkeit akzeptieren, ob wir wollen oder nicht. Das ist hart, aber es ist auch der einzige Weg zu einer erwachsenen Geisteshaltung, die uns dazu befähigt, zufriedene Menschen und mündige Bürger zu sein. S.I.:   In dem Psychothriller „NULLZEIT“ verlässt ein junger Mann Deutschland, begleitet von seiner Freundin, um auf Lanzarote eine Tauchschule aufzumachen. Hier trifft er auf ein narzisstisches Künstlerpaar, einen Schriftsteller und eine Schauspielerin. Der Tauchlehrer lässt sich auf eine Dreiecksgeschichte mit den beiden ein, wird benutzt. Eine Geschichte voller Selbstzerstörung, Zerstörung, Verachtung, Manipulation, Macht. Es wird mit Angst gespielt, mit Erotik, mit dem Bösen. Auch hier geht es wieder um Macht, Profitgier, Vorteile, wie in vielen Ihrer Romane. Was fasziniert Sie an narzisstischen manipulativen Charakteren? J.Z.:   Das kann ich schwer beantworten. Vielleicht spiegelt sich mein Schriftstellertum in solchen Charakteren – denn auch ich „manipuliere“ ja gewissermaßen meine Figuren, indem ich sie erfinde und handeln lasse. S.I.:   Ein Brecht Zitat: „Der Mensch an sich ist schlecht.“ Und „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Würden Sie dem so zustimmen im Großen und Ganzen? J.Z.:   Nein. Mein Menschenbild ist sehr positiv. Ich bin fest überzeugt, dass wir kooperative Wesen sind, die vor allem danach streben, ein friedliches Leben zu führen – als Einzelne, aber auch miteinander. Das Schwierige besteht nicht darin, den Menschen von seiner „Boshaftigkeit“ zu heilen, sondern das Unglück möglichst klein zu halten, welches daraus entsteht, dass wir nun mal alle unterschiedliche Interessen und Vorstellungen haben. S.I.:   Ein Zitat von Ihnen: „Demokratie ist kein Verfahren, um wirklich ein gutes Ziel zu erreichen. […] Demokratie ist nicht die Methode zum Ermitteln des besten Ergebnisses, sondern nur eine Methode, um Macht zu zerstreuen.“ Demokratie bröckelt in vielen Ländern um uns herum. Sind wir demokratiemüde? J.Z.:   In gewisser Weise schon. Wie oben beschrieben sind viele Gesellschaften momentan von Angst geprägt, Leute wähnen sich in der Dauerkrise, sie haben das Gefühl, dass alles vor die Hunde geht, obwohl wir in einem einzigartigen friedlichen und sicheren Zeitalter leben. Diese Angst macht uns zu sehr schlechten Demokraten. Sie mag ein Grund dafür sein, dass die Menschen das Vertrauen in die Demokratie verlieren. S.I.:   Noch ein Zitat von Ihnen: "Wenige Menschen beherrschen die Kunst, sich vor den richtigen Dingen zu fürchten." Wofür müssen wir uns fürchten? J.Z.:  Wir sollten uns vor der Angst fürchten, denn sie ist die destruktivste Kraft im menschlichen Handeln. Wir müssen über diese Angst sprechen, ihre Ursachen erkennen und sie dadurch auflösen. Stattdessen benutzen Medien und Politik diese Angst, um ihre Produkte zu verkaufen. Das ist verantwortungslos und ein Grund dafür, warum der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert. S.I.:   Sie haben beim Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen den biometrischen Reisepass als Überwachungsinstrument eingereicht. 2013 führten Sie anlässlich der NSA-Affäre eine Protestaktion vor dem Bundeskanzleramt an. Sie sind eine politisch aktive Schriftstellerin und Sie sagen offen, was Sie denken. Alle Themen in Ihren Büchern sind gesellschaftskritisch. Müssen Künstler als Vorbild öffentlich oder durch ihre Arbeit, auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam machen? J.Z.:   Müssen nicht, aber ich finde es sehr wichtig, dass sich Menschen am Diskurs beteiligen, die weder Journalisten noch Berufspolitiker sind. S.I.:   Das Thema staatliche Überwachung und Bürgerbevormundung zieht sich durch alle Ihre Werke. Es geht um Chaos und Ordnung, um Regelwut, die Infragestellung von Moral. Angeblich braucht der Mensch für alles ein Gesetz oder eine Verordnung, damit das System funktioniert. Stimmt das oder brauchen wir mehr Freiheit? J.Z.:   Wir müssen die Freiheit bewahren, die wir bereits haben, anstatt sie zugunsten eines absurden Sicherheitswahns aufzugeben. S.I.:   Vielen Dank für die Beantwortung meiner Fragen. Zur Rezension “Unterleuten” Zu den anderen Interviews
Foto © Thomas Müller
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