Autorin
Sabine Ibing
»Die Familie basierte auf Unausgesprochenem. Es hatte vielleicht
Hinweise gegeben, ein geflüstertes Gespräch im Nebenzimmer, das
erstarb, sobald er eintrat. Es gab Geschichten, die er akzeptiert hatte,
ohne sie ganz zu kennen, und andere, von deren Existenz er nichts
wusste.«
Eine Familiengeschichte, die auf Lügen und Vertuschung aufbaut, auf
Unausgesprochenes, Scham, Dickschädligkeit, postiert auf den
Moralvorstellungen einer katholischen Gesellschaft in den Fünfzigern.
»Im Auto auf dem Weg zum Krankenhaus erinnerte Nora sich.«
Alles beginnt mit dem Tod eines Fünfzigjährigen, dem Sohn von Nora, ein
Autounfall. Wir bewegen uns zwischen der heutigen Zeit und den
Erinnerungen zweier Schwestern. Alles beginnt in Irland. Nach dem Tod
der Mutter überlässt der Vater der Ältesten, Nora, die Erziehung ihrer
zwei Geschwister. Nora ist gewissenhaft, gradlinig, moralisch gefestigt,
aber ebenso ein ängstliches Wesen. Wie soll ein Kind andere Kinder
erziehen? Gern würde die fleißige Nora studieren, aber dafür reicht das
Geld nicht. Sie soll den Nachbarssohn Charlie Rafferty heiraten, ein
netter Kerl, den Nora jedoch nicht liebt. Das halbe Dorf ist in die USA
ausgewandert, den ärmlichen Verhältnissen von Irland entflohen, auch
Noras Verlobter Charlie versucht sein Glück. Nora ist erleichtert, er ist
weg. Doch der Mann liebt sie aufrichtig, spart in Boston Geld zusammen,
damit Nora folgen kann. Nora hat Angst um ihre wilde, lebenshungrige
Schwester Theresa, teilt Charlie mit, sie kommt nur nach, wenn auch
diese mitreisen darf. Und der Mann kauft zwei Tickets und besorgt für
beide Frauen einen Job in Boston. Nun gibt es kein Zurück, Noras Vater
besteht darauf, das Glück liegt in der Fremde. Schon an Bord des
Schiffes findet Theresa sofort Freundinnen, erkundet mit ihnen das
Schiff, amüsiert sich, während Nora von Angst und Heimweh geplagt die
Koje nicht verlässt. Boston ist völlig anders: Trubel, fließendes Wasser
aus dem Hahn, sogar warm, Eiscreme in Gefrierschränken usw. Nora
festigt sich, glaubt, auch ohne Charlie zurechtzukommen, sie will
studieren. Ein Ereignis allerdings führt dazu, dass die
verantwortungsvolle Nora sich ihrem Schicksal ergibt, doch Charlie
heiratet, der ja ein netter Kerl ist, eine Hausfrau wird.
»Nora und Charlie zogen in die oberste Etage eines Hauses auf der
Crescent Avenue. Die Monatsmiete betrug hundert Dollar. Mrs. Quinlan
organisierte ihnen gebrauchte Einrichtungsgegenstände. Jedes Stück
hatte noch den Geruch eines anderen Haushalts. Das abgewetzte Sofa
roch nach Pfeifenqualm. Der fadenscheinige Teppich wie ein alter Hund.«
Im Laufe der Zeit haben vier Kinder die Familie bereichert. Theresa
gehört nicht mehr zur Familie, man hat keinen Kontakt zueinander. Die
Kinder wissen nichts von der Tante. Sie kennen Mama Nora als
furchtlose, durchsetzungsfähige Frau, die wie eine Löwin die Familie
verteidigt, stets für Ordnung sorgt.
»Als Brian, das Nesthäkchen, auszog, machte Nora sich schreckliche
Sorgen. Noch mehr Sorgen machte sie sich allerdings, seit er wieder
eingezogen war.«
Charlie und Nora haben ein gutes Leben. Sie sind nicht reich, aber sie
leiden keine Not, wie in Irland. Die Kinder sind sehr verschieden, zwei
haben es zum Aufstieg gebracht. Brian, der Jüngste wurde Baseballstar,
bekam aber letztendlich nach einer Verletzung sein Leben nicht ganz
auf die Reihe. John ist ein bekannter Berater für Politiker geworden, ist
mit Julia verheiratet, die chinesische Wurzeln hat. Hier hat mir sehr
gefallen, wie die Erziehungsmethoden der Generationen diametral
gestellt werden. Die gelassene Julia, die alles ausdiskutiert, Nora, die
nach der Aussprache von schmutzigen Wörtern den Kindern den Mund
mit Seife auswusch. Nora, die Moralinstanz, die aber letztendlich doch
alles zulässt, eine Ausrede erfindet, warum doch in Ordnung sein
könnte, bzw. nicht über das Thema redet, die Wahrheit ignoriert.
»Auch als Maeve noch im Kleinkindalter war, war Julia ein respektvoller
Umgang mit ihr wichtig. Wenn Maeve noch einen Keks wollte, sagte Julia
nicht einfach Nein, sondern setzte ihr auseinander, warum das eine
schlechte Idee war. Johns Mutter hätte wahrscheinlich gesagt: Der Arzt
hat angerufen und gesagt, wenn du heute noch das kleinste bisschen
Zucker zu dir nimmst, explodiert dein Magen, und du verblutest.«
Die Jahre vergehen, Charlie ist verstorben. Leider stellen sich zu Noras
Leid keine Enkel ein. Nur John hat eine Tochter, ein adoptiertes Kind,
Maeve. Der Jüngste und der älteste Sohn bringen es zu nichts, nicht mal
zu einer Beziehung. Und Bridget, die Tochter ist nicht so, wie Nora sie
gern gewollt hätte. Sie ist wild, dickschädlig und sie ist lesbisch.
»Als Bridget Natalie zu Hause vorgestellt hatte, hatte ihre Mutter gesagt:
›Natalie, du hast so guten Geschmack. Geh doch mal mit Bridget
einkaufen.« Da dachte Bridget, dass Natalie die Tochter war, für die ihre
Mutter gebetet hatte, wenn früher die ganze Familie abends gemeinsam
vor dem Sofa kniend einen Rosenkranz sprach, während Kardinal
Cushing im Radio zu hören war.‹
Die Geschwister leben jeder ein eigenes Leben, manche haben sich nicht
viel zu sagen, andere stehen sich näher. Zur Beerdigung rücken sie dicht
zusammen. Und dann hören sie von ihrer Tante, die kommen soll. Welche
Tante? Die Mutter hatte angeblich nur einen Bruder und der ist
unverheiratet in Irland verstorben. Nora kommt ins Schwimmen. Sie hat
im Leben alles richtiggemacht. So meint sie jedenfalls. Diese Schwester
hat ihr Leben verpfuscht und ist dann abgehauen.
»Warum hoben Leute Dinge auf, die keiner finden durfte? Vielleicht hatte
es damit zu tun, dass man sich den eigenen Tod nicht vorstellen konnte
und jeder glaubte, er habe noch jede Menge Zeit, die Leichen im Keller
zu beseitigen.«
Parallel erfährt der Leser von Theresa, was passiert ist, ihre Sicht der
Dinge. Auch sie fühlte sich von ihrer Schwester verraten, die, die ihr
Leben verpfuscht hat … Auch sie glaubt, sie hätte alles richtiggemacht.
Verraten, alleingelassen, kommt sie in New York als Lehrerin nicht klar,
findet keinen Halt in der großen Stadt, die doch eigentlich ihr Ziel war.
Wochenendbesuche in einem Kloster geben ihr Stärke, sie verbleibt an
diesem Ort.
Jeder macht das, was er für richtig hält, fragt keinen anderen, das setzt
sich auch bei den Kindern fort. Woran scheitern Beziehungen,
Freundschaften? Kommunikation als Zauberwort würde viele
Missverständnisse lösen, miteinander reden, sein Denken offenbaren
und sein Handeln begründen. Wenn niemand weiß, warum der andere
etwas so macht, und nicht anders, kann aus der eigenen Sicht schnell
missdeutet und verurteilt werden. Das Buch könnte auch heißen: Wenn
du geredet hättest … »Saints for all occasions«, so der Originaltitel,
wesentlich passender für dieses Buch. Denn hier geht es auch um die
Heiligkeit, die kirchliche Moral, die vor allem steht, und die
Scheinheiligkeit, mit der die Menschen mit dieser Moral umgehen, die so
gar nicht in ihr Leben passen mag. Was nicht sein darf, wird vertuscht,
es wird gelogen, bis die Balken biegen und das ganze Umfeld macht mit.
Oder man schweigt, spricht Dinge nicht an. Die Tochter lebt mit einer
Frau in einer WG, das Wort lesbisch, Lebensgemeinschaft, wird nie
angesprochen.
Irische Community wird in den USA kräftig weitergelebt. Und so darf der
Humor nicht fehlen. J. Courtney Sullivan ist eine Familiengeschichte
gelungen, die zwischen Tragik und Humor ausgelotet ist. Die Figuren sind
stimmig, jeder handelt aus seiner Position heraus. Fein beschriebene
Charaktere, eine Darstellung der Gesellschaft der 40-er im armen Irland,
die sich in den aufstrebenden Jahren der 50-er und 60-er in den USA
durch abertausende Einwanderer fortsetzt. Kinder und Enkel, denen
diese Moral nicht mehr so wichtig erscheint, der Wandel der Zeiten. Wer
Familiengeschichten mag, liegt hier richtig.
J. Courtney Sullivan ist Autorin und Journalistin, lebt in New York und
schreibt u. a. für New York Times, Chicago Tribune, Elle und Men’s
Vogue. Ihr Roman »Sommer in Maine« war in den TOP 10 der besten
Bücher des Jahres des Time-Magazines.
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Rezension
All die Jahre
von J. Courtney Sullivan