Autorin
Sabine Ibing
Aquarium
von David Vann
»Im Laufe meines Lebens werden die Riffe wegschmelzen, sich aufgelöst
haben. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts werden fast alle Fische
verschwunden sein. Das gesamte Erbe der Menschheit wird auf nur eins
hinauslaufen, eine Linie roter Pampe in der paläo-ozeanographischen
Aufzeichnung. Unsere Dummheit ist überwältigend traurig. Doch wenn ich
eine Mondqualle betrachte, deren Schirmsternbild in die endlose Nacht
pulsiert, denke ich, vielleicht ist alles gut.«
Caitlin Thompson lebt allein mit ihrer Mutter Sheri in einer Wohnung in der
Vorstadt, einem Industriegebiet in Detroit, dort, wo man nur deshalb
wohnt, weil es billig ist. Die Umgebung ist hässlich, grau, lieblos. In der
Wohnung sieht es nicht besser aus. Spärlich eingerichtet, weiße Wände,
brutales Deckenlicht von unverhüllten Glühbirnen. Die Mutter arbeitet
hart im Containerhafen als Mechanikerin, 12 bis 14 Stunden, macht häufig
Überstunden. Sehr früh am Morgen fahren die beiden den weiten Weg in
die Stadt, Caitlin wartet Stunden in der Schule, bevor der Unterricht
beginnt. Nach dem Unterricht geht sie ins Aquarium, denn sie liebt Fische.
Die Mutter holt sie dort ab und wenn sie Überstunden machen muss, hockt
Caitlin nach dem Aquarium in einem Aufenthaltsraum im Hafen. Doch
eines Tages gerät sie an einen Securitymann, dem es nicht passt, dass ein
Kind dort herumlungert.
»Ich glaube, es gibt ein Gesetz, das besagt, dass ich dich nicht allein
lassen darf, ohne einen Erwachsenen. Also mache ich keine Überstunden
mehr. Wir kommen trotzdem zurecht. Ich habe genug für die Miete und
Essen und Sprit, und du hast deinen Aquarium-Ausweis. ... Ich bestelle
Telefon und Fernsehen ab, wenn ich kann.«
Caitlin verbringt ihre gesamte Freizeit im Aquarium, besucht die dort
angebotenen Vorträge, weiß alles über Fische. Fische, die in Freiheit
leben, Fische in Schwären, nie allein. Eines Tages unterhält sie sich mit
einem älteren Herrn und von nun an jeden Tag. Sie schließen
Freundschaft. Der Mann bittet sie, der Mutter von ihm zu berichten, sich
mit ihr zu treffen. Sheri ist außer sich, vermutet einen Pädophilen,
informiert die Polizei. Im Aquarium wird der Mann gestellt. Und nun rastet
Sheri völlig aus: Es ist ihr eigener Vater! Der Mann, der sie als Jugendliche
mit einer todkranken Mutter verlassen hatte. Der Mann, der sie
überforderte, mit dem schleichenden Tod und der Pflege allein ließ, der
ihr die Möglichkeit zur Bildung nahm, der ihr alles nahm, was sie hatte, was
sie sich für die Zukunft wünschte. Sie verbietet Caitlin den Umgang mit
ihrem Opa, obwohl er ein interessantes Angebot macht.
»Wie eine feste Traube von Eiern, dichtest gedrängte Anemonen. Ein
samtgrüner Mond am Ende jedes Stängels, sie wiegend in der Strömung
von innen erleuchtet, unmöglich zu verorten. Da und nicht da. Ein
erhebendes Gefühl, Teil einer Familie zu sein, dazuzugehören.«
Caitlin ist glücklich, ihren Großvater gefunden zu haben, ein Stück Familie,
die Wärme des alten Mannes. Sie kämpft für ihn. Das Mädchen hat neben
ihrer Mutter nicht viel Kontakt zur Außenwelt. Eine einzige Freundin aus
der Schule, die sie hin und wieder besucht und Steve, der Freund der
Mutter, der oft zu Besuch ist, der fantastisch kochen kann, ein
lebenslustiger Mann ist.
Herkunft, sagte Steve. Sie erklärt uns nicht, weißt du. Niemals. Jeder ist
seine eigene Marke. Ich stamme von Nintendo ab. Das war ein Elternteil,
meine Mutter. Ich habe am Joystick genuckelt. Und AC/DC, ein später,
aber solider Satz Väter, Back in Black und ganze Nacht durchschütteln, ein
guter Vorläufer von Nirvana.«
Doch was nun folgt, ist unglaublich. Die Mutter projiziert ihren erlebten
Schmerz auf die Tochter, der Leser erschaudert. Brutale Abgründe tun
sich auf, verletzte Seelen, Hass, Schuldzuweisungen, es gibt keine Chance
zur Versöhnung. Die Zerstörung der Seele der vierzehnjährigen Sheri
wird noch einmal durchlebt, bringt sie selbst und alle Menschen um sie
herum an ihre Grenzen. Der Leser leidet mit Caitlin, versteht die Heftigkeit
des Handels der Mutter nicht, leidet aber auch mit Sheri, am Ende sogar
mit dem Vater, ist hin- und hergerissen, hineingezogen in diese
Familientragödie, hofft, dass alles irgendwann ein gutes Ende nehmen
wird, hofft auf Aussöhnung.
Eine abgründige Erzählung, starke Metaphern, der Roman hallt beim
Leser lange nach. Atmosphärisch dicht, sprachgewaltig, sanfte Töne, die
den Leser ruhig einstimmen, Gespräche zwischen dem Kind und dem alten
Mann im Aquarium, die Beobachtungsgabe der beiden, die einzelnen
Fische mit Menschen vergleichen, Schwäre mit Familien. Später kracht es
gewaltig, zerstörerisch. Ein großartiges Buch.
David Vann ist in Alaska geboren und dies ist nicht der erste Roman, die
sich mit Katastrophen von Familien beschäftigt. Er weiß, wovon er spricht.
Er verlor mit dreizehn seinen Vater durch dessen Suizid. Als der Vater mit
seiner zweiten Ehefrau, telefonierte, die sich ebenso wie die erste Frau
wegen seiner dauernden Untreue von ihm getrennt hatte, erschoss er
sich. »I love you but I’m not going to live without you«, soll er zu ihr gesagt
haben.
David Vann wurde für seinen Roman »Dreck« mit dem St. Francis College
Literary Prize ausgezeichnet. Es ist einer der mit $50.000 höchstdotierten
Literaturpreise der USA.
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