Autorin
Sabine Ibing
Der erste Satz: »Ich haste durch eine nebelverhangene Straße.«
Dacia Maraini ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Italiens. Schon
seit Jahren wird sie für den Nobelpreis gehandelt. Sie war eng
befreundet mit Pier Paolo Pasolini, lebte über 20 Jahre mit Alberto
Moravia zusammen, der zuvor lange Zeit mit Elsa Morante verheiratet
war.
Dacia Maraini lässt ihren neuen Roman von Nani Sapienza, einem Lehrer
in einer italienischen Kleinstadt erzählen (Sapienza bedeutet übrigens
Wissen). Seine Tochter ist im Alter von acht Jahren an Krebs gestorben,
die Ehe hielt das nicht aus, seine Frau hat Nani verlassen. Eines nachts
träumt er von einem Mädchen im roten Mantel mit weißen Gummistiefeln.
Im Radio berichtet man Morgen vom Verschwinden des Mädchens Lucia,
im roten Mantel mit weißen Gummistiefeln. Das Mädchen ging auf Nanis
Schule, das kann kein Zufall sein. Das Mädchen wird nicht gefunden, die
Polizei stellt irgendwann die Suche ein. Nani, immer noch in Erinnerung an
die eigene Tochter, die er nicht wieder zurückholen kann, glaubt hier,
seine Erfüllung zu finden. Er sucht Lucia. Er interviewt Menschen,
sammelt Spuren, geht Hinweisen nach, gerät plötzlich selbst unter
Verdacht.
»Wer legt denn fest, welche Themen für zehnjährige Kinder angemessen
sind? Kinder, die freien Zugang zum Internet haben, wo man alles finden
kann, von der Pornografie bis zur Philosophie. ... Die Schüler sehen und
hören es doch im Fernsehen ungefiltert. Ich dagegen bemühe mich ihnen
die Angelegenheit behutsam zu erklären, mit Respekt vor ihrem Alter, und
versuche dabei Bezüge zu den Mythen der Antike herzustellen.«
Ein weiterer Teil des Buchs befasst sich mit dem Unterricht von Nani, der
den Grundschülern in seiner eigenen philosophischen Denkweise eine
liberale Welt erklärt, sie zum Denken auffordert, was den Eltern nicht
immer gefällt. Es geht in diesem Roman nicht nur um Kinder, die jedes
Jahr spurlos verschwinden, sonder auch darum, wo Kinder in dieser
Gesellschaft stehen, wohin wir in Zukunft gehen werden. Nani erzählt
seinen Schülern Geschichten, lässt sie raten, wie sie ausgehen, lässt
verschiedene Entwicklungen der Legenden zu, die dann kontrovers
diskutiert werden. Er gibt den Kindern Raum zu denken, sich eine Meinung
zu bilden, die dann auch zu vertreten, gibt Denkanstöße, verknüpft alte
Mythen mit Playstation und Internet. Dabei bedient er sich in
abgewandelter Form der ganzen Kulturgeschichte, angefangen bei
Rotkäppchen über Alice im Wunderland, die in einem Erdloch
verschwindet. Er berichtet von King Kong, der die Frau raubt und vom
Raub der Sabinerinnen.
»›Was ist ein Sklave?‹ – ›Du wirst zum Sklaven, wenn du deine Freiheit und
alle Rechte verlierst, wenn du das Eigentum eines Herren wirst, der mit
dir machen kann, was er will.‹ – ›Wie ein Hund?‹ – ›Ja, genau wie ein Hund,
selbst wenn du ihn quälst oder sogar röstest, sagt niemand etwas.‹ – ›Ich
habe einen Hund. Er schläft in meinem Bett und ich tue ihm gar nichts.‹ –
›Zum Glück gibt es auch freundliche Menschen, die einander lieben. Aber
Freiheit und Recht sind etwas anderes. ...‹« (und nun wird über Würde
diskutiert ... herrlich!)
Die Themen in diesem Buch sind vielschichtig, vom islamischen
Fundamentalismus, der achtjährige Mädchen durch Vollverschleierung
von der öffentlichen Bildfläche verschwinden lässt, bis hin zu
Kinderbordellen in Kambodscha und Formen der Pädophilie. Mädchen
verschwinden. Maraini zieht alle Kisten auf. Nani selbst sitzt der
unsichtbare Rabe auf der Schulter und der flüstert ihm ein, dass er
vielleicht selbst das Mädchen entführt habe ... Hast du vielleicht ein
anderes Ich, so kennst du es nicht. Die Autorin spielt mit dem Leser, ein
Roman, der gewissermaßen auch unter Krimi einsortiert wird. Zumindest
ein Buch, das man lesen sollte, auf jeden Fall.
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Rezension
Das Mädchen und der Träumer
von Dacia Maraini