Autorin
Sabine Ibing
Ein Zopf wird aus drei Haarsträngen gefochten. Einen alten Zopf sollte
man abschneiden. Eine Frisur muss man aufbauen, man versucht sie zu
retten und irgendwann fällt sie zusammen. Soweit ist der Titel des
Romans gut gewählt. Ich war sehr gespannt. Drei Frauen, drei
Kontinente, drei Schicksale, die zusammengeflochten werden. Die Idee
war gut.
In Indien steht laut der Religion der Hindus mit Geburt fest, welcher Kaste
man zugehört. Hunderttausende aus der Kaste der Unberührbaren, der
Dalits, reinigen tagtäglich die Trockentoiletten der Höhergestellten,
obwohl heutzutage diese Toiletten gesetzlich verboten sind. In Indien
gibt es wesentlich mehr Handys als Toiletten; Wasserspülungen gibt es
nur in Metropolen in Luxushäusern, etwa ein Drittel der Bevölkerung, hat
keinen Zugang zu einer Toilette, man erleichtert sich in den Grünzonen,
an Mauern, Trockentoiletten sind ein gewisser Luxus. Smitas Familie
gehört zu den Dalits, die täglich die Exkremente in den Häusern von
höher gestellten Kasten auslöffelt, entsorgt. Ihr Mann arbeitet als
Rattenfänger, die Tiere dienen der Familie auch als Nahrung. Ihrer
Tochter Lalita soll es später besser gehen. Smita hat es geschafft, ihre
Tochter zur Schule zuzulassen. Und was kommt danach? Sie sind Dalits!
Ihr Mann glaubt daran, dass es ihnen in einem späteren Leben einmal
besser geht. Smita mag aber nicht an spätere Leben denken. Um den
Kreislauf zu durchbrechen, muss sie ihr Schicksal selbst in die Hand
nehmen ...
»Seit fast einem Jahrhundert lebt ihre Familie von der Cascatura, einem
alten sizilianischen Brauch, der darin besteht, Haare, die ausfallen oder
abgeschnitten werden, zu sammeln, um später Toupets oder Perücken
daraus zu machen.«
Giulia wohnt auf Sizilien. Ihre Familie ist seit mehreren Generationen im
Besitz einer Perückenwerkstatt. Dort knüpft man aus Echthaar
hochwertige Perücken. Ihr Vater bekommt eines Tages einen
Schwächeanfall, kippt um, fällt ins Koma. Sie soll aus seinem Büro
Unterlagen besorgen. Bei der Suche nach den Dokumenten fallen ihr
Betriebsunterlagen in die Hände, die eindeutig zeigen: Die Firma ist
verschuldet, pleite, selbst das Privathaus ist beliehen. Giulia muss nun die
Geschicke lenken. Was soll die junge Frau tun? Soll die einen Mann
heiraten, den sie nicht liebt, der zumindest die Hypotheken auf das
Privathaus der Familie abbezahlen kann? Mutter und Schwester sind
pragmatisch: es geht um die Familie, nicht um die Wünsche eines
Einzelnen.
Sarah ist Anwältin, lebt in Montreal, Kanada. Sie steht kurz davor
Partnerin einer Wirtschaftskanzlei zu werden, alleinerziehend, hart
arbeitend, erfolgreich. Freizeit ist für sie ein Fremdwort, erst recht
jammert man nicht, egal was passiert. Den Status des Erfolgs hat sie sich
hart erarbeitet. Als Frau muss man noch besser sein als ein Mann, noch
härter arbeiten. Mancher Mann neidet ihr den Erfolg. Sarah wird krank.
Ja und? Auch da muss man durch, nur nichts anmerken lassen,
ansonsten ziehen die anderen die Messer …
Es gibt einen großen Hype um das Buch. Das kann ich nicht
nachvollziehen. Ziemlich schnell ist dem Leser klar, wie die Geschichten
ausgehen und wie sie verbunden sind, der Spannungsfaktor war für
mich gleich Null. Die Protagonisten sind für mich flach, klischeehaft mit
viel Herzschmerz angelegt. Genau hier funktioniert der Roman für mich
nicht, aber garantiert bei anderen Lesern. Die Geschichte ist für mich
angelegt auf die Tränendrüse, kitschig, unglaubwürdig. Smita ist mutig.
Kann sie das wirklich sein? Nehmen wir an, sie nimmt ihr Schicksal in die
Hand. Würde sie das genauso anstellen? Das bezweifle ich. Alles läuft
glatt. Man isst Ratten, hat keine Rupie, aber für die Schule der Tochter
hat sich die Familie etwas abgespart? Und plötzlich gibt es sogar ein
Fahrrad, woher das auch immer kommen mag? Vorher nie davon die
Rede. Versteckt eine Inderin Proviant tags zuvor in einem Busch, ahnt
nicht, dass Tiere die Tasche ausräumen? Und wozu? Diese gesamte
Geschichte, einschließlich der Protagonistin ist meines Erachtens
unglaubwürdig. Smita denkt und handelt nicht in ihrem Mikrokosmos,
sondern agiert und redet nach der Denkweise unserer Gesellschaft.
Auch die Figur Giulia kommt bei mir nicht an. Giulia ist ein naives
Mädchen, kümmert sich nicht um Geschäftliches, obwohl sie wohl dem
Vater folgen soll. Von einem Tag auf den anderen erstellt sie
banktaugliche Geschäftsberichte und Analysen für ein neues weltweites
Geschäftsmodell auf? Hat sie eine Ausbildung? Darüber wird nichts
ausgesagt. Und einer mit fremden Wurzeln muss dafür herhalten, gute
Ideen und Kontakte zu haben, damit er vorzeigbar ist?
Das größte Klischee für mich ist zuletzt Sarah, ihr gesamtes Umfeld. Was
passiert, wenn man schwer krank wird? Man ist nicht voll leistungsfähig.
Sarah empfindet es als Angriff, wenn man sie bittet, beruflich etwas
kürzer zu treten, nicht mehr die Filetstücke zur Bearbeitung erhält. Aber
das ist in einer Wirtschaftskanzlei das gängige Geschäft, nicht nur dort.
Den Job eines Kellners kann ein Kollege übernehmen, wenn er ausfällt,
aber hier bedeutet es wochenlange Einarbeitungszeit in Fälle.
Mitarbeitern wird in solchen Kanzleien das letzte Blut ausgesaugt, sie
arbeiten bis zum Limit, kassieren eine Menge Geld dafür. Wer freiwillig im
Haifischbecken schwimmt, darf sich nicht beschweren, wenn zugebissen
wird, sobald einer blutet. Alle Menschen um Sarah herum sind Hyänen,
nur sie ist gut. Genau das ist der Punkt, wo ein Stoff an mir vorbeirinnt.
Es gibt nur Schwarz und Weiß.
Die Figuren sind starr, wecken in mir nur Staunen, keine Empathie. Die
Sprache ist recht einfach gestrickt, kurze Sätze, glatte Dialoge ohne
Tiefe. Das ganze Buch baut auf Emotion und Mitleid auf, ist nach Schema-
F aufgebaut, auf ein bestimmtes Publikum zugeschrieben. Es gibt keine
schönen Metaphern, feine Sätze, Gedanken, die in die Tiefe gehen. Für
mich ist der Text schlicht runtergeschrieben, passend zur Story. Mir
gingen die Figuren nicht nahe, auch nicht die Geschichten, die für mich
aus der Retorte stammen, mir fehlte echte Empathie, Glaubhaftes. Die
Katharsis ist nicht gelungen. Das soll nicht heißen, dass dieses Buch
schlecht ist. Es spricht mich nicht an, findet aber ein großes Publikum und
darum ist es ok. Wer »Ein ganzes halbes Jahr« gernhatte, sollte
zugreifen, dazu ein Päckchen Taschentücher.
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Rezension
Der Zopf
von Laetitia Colombani
Gesprochen von: Andrea Sawatzki,
Valery Tscheplanowa, Eva Gosciejewicz
ungekürztes Hörbuch, Spieldauer: 05
Std. 41 Min.