Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Seit viel zu langer Zeit versuche ich, Philips Geschichte zu
verstehen. Ich will das Geheimnis lüften, das in ihr verborgen ist.«
Der Schweizer Lukas Bärfuss, Dramatiker, Essayist und Romancier wurde
für seine Werke mehrfach ausgezeichnet: Mülheimer Dramatikerpreis
(2005), Anna-Seghers-Preis (2008), Mara-Cassens-Preis (2008), Schillerpreis
der Schweizerischen Schillerstiftung (2009), Erich-Maria-Remarque-
Friedenspreis, Sonderpreis (2009), Hans-Fallada-Preis der Stadt
Neumünster (2010), Kulturpreis Berner Oberland (2011), Berliner
Literaturpreis (2013), Solothurner Literaturpreis (2014), Thuner Kulturpreis
(2014), Schweizer Buchpreis (2014), Nicolas-Born-Preis (2015), war in diesem
Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Was ist Hagard? Das Wort kommt im Buch nicht vor. Lukas Bärfuss erklärt,
Hagard sei ein Fachwort aus der Jägersprache. Gemeint sind wild
gefangene Falken, die abgerichtet werden, aber sich nie ganz zähmen
lassen. Und dieser Hagard ist für den Erzähler dieses Buches der
Protagonist Philip. Dieser angepasste Geschäftsmann wartet auf einen
Kunden, der nicht erscheint. Um sich die Zeit zum nächsten Termin mit
Belinda zu vertreiben, begibt sich der Immobilienhändler auf die Straße,
sieht pflaumenblaue Ballerina, Beine, ist fasziniert und folgt dieser Frau ...
Sie verschwindet in einem Laden, überreicht dem Angestellten einen
Zettel, ein Pelz wird in eine Hülle gegeben, sie verlässt den Laden mit dem
Pelzmantel über dem Arm. Wer mag die Frau sein?
»Der Anfang? Damit ist es so eine Sache. Niemand kann bestimmen, mit
welchem Ereignis eine Geschichte beginnt. Am Anfang schuf Gott den
Himmel und die Erde, so heißt es – aber was hat er vorher getrieben?«
Was treibt er dort, fragt sich der Erzähler? Er stalkt an einem Zürcher
Märznachmittag diese unbekannte Frau. Gut, denkt der Leser, er folgt
einer unbekannten Frau, beantwortet keine SMS der Sekretärin, lässt
Belinda unentschuldigt sitzen, fährt schwarz in der S-Bahn. So weit, so gut,
er folgt einem inneren Trieb. Doch er folgt ihr bis nach Hause, lungert die
ganze Nacht vor ihrem Haus herum, bestellt jemanden, der sein Auto aus
der Garage holt, zu fährt. Setzt sich hinein, bestellt eine Pizza, beobachtet
das Haus. Am nächten Tag muss er nach Gran Canaria fliegen, einer
Gruppe Senioren Appartements verkaufen.
»Darauf war Philip nicht vorbereitet. Er hat den nächsten Schritt, nachdem
man einen Schuh verloren hat, nie gelernt. Seine Zivilisation hat diesen
Fall nicht vorgesehen.«
Aber was treibt er da? Er hat Hunger, Durst, doch er kann nicht von dieser
Frau ohne Gesicht nicht loslassen, folgt ihr am nächsten Tag, fährt wieder
schwarz, ohne Portemonnaie, der Akkustand des Handys tendiert gegen
Ende, er verliert einen Schuh, klaut sich einen überdimensionalen
Plüschhausschuh.
Wer stalkt wen? Philip die Frau oder der Leser über den Erzähler, der
atemlos Philip verfolgt? Der Akku des Handys entleert sich, wie Philips
Verstand, sein Bezug zur Wirklichkeit.
»Das Mädchen stand in einem Streifen Sonnenlicht, der durch die Äste fiel.
Im Gegenlicht entzündeten sich ihre Haare, ein Strahlenkranz hob ihre
Umrisse aus dem Dunkel, ein Schattenriss in einer Korona, eine betörende
Komposition, ein Geschenk für jeden, der Augen dafür hatte.«
Der Akku ist leer, das öffentliche Telefon nimmt keine Münzen an, es ist
auch egal, denn die Nummern befinden sich nicht im Kopf, auch hier ist
der Akku leer. Die Geschichte von einem, der aus der Rolle fällt,
schleichend, sich fallen lässt in die Verwahrlosung. Ein Mann, der sich
hineingleiten lässt in seine innersten Gefühle, abgleitet heraus aus dem
Alltag, gnadenlos, wohin ihn das auch führen mag. Er folgt seinen
Urinstinkt, verlässt sich auf Geruchssinn und visuelle Reize. Die Gründe
mag man ahnen. Belinda, man meint, sie sei seine Freundin, Frau, erfährt
später, sie sei Tagesmutter von Philipps Kind und illegal im Land, trifft er
nicht, informiert sie nicht. Kein Gedanke an das Kind. Gibt es eine Ehefrau?
Irgendwann fragt sich der Leser, ob die Frau, deren Gesicht Philip nicht
erkennen kann, existent ist. Oder ist sie schlicht die Metapher des
Abgleitens ins Nichts? Fliegen und vergessen, Verantwortung abstreifen,
verfallen dem Wahn.
»Blind gehen sie den Weg, zurechtgemacht für den Dienst. Kompakte
Tornister, die Getränkeflaschen in den Seitentaschen, alle frisch, frisiert,
feldtüchtig. Gestern war er einer wie sie, heute verachtet er die
Menschen.«
Am Anfang vom Buch beobachtet Philip Jugendliche, »Sie wussten nicht,
dass sie längst in der Falle saßen, längst geknechtet von den
Kreditverträgen.« Der erste Hinweis, auf das was folgen wird. Diese
Geschichte erinnert mich im Prinzip an wahre Zusammenbrüche. Ein
beeindruckender Text, der im Zeitraffer die Ereignisse zusammenfasst.
Ein Ende, das viele Gedanken zulässt. Wer ist der Erzähler, der diese
Details kennt? Der andere Philip in seinem Körper oder die Frau ohne
Gesicht?
»Ich weiß alles, und ich verstehe nichts.«
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Rezension
Hagard
von Lukas Bärfuss