Autorin
Sabine Ibing
Der Anfang: »Er war fünfzehn Jahre alt, als er seinen ersten Toten sah.
Franz hockte sich vor die Leiche. Sie stank trotz der Kälte.«
Das Buch hat mich ratlos hinterlassen, auf mehreren Ebenen. Wie fange
ich an? Der Roman an sich ist, oberflächlich formuliert, spannend.
Beginnen wir mit der Verlagsinformation: » Jan Kilman ist das Pseudonym
eines bekannten deutschen Spannungsautors. Für seinen historischen
Krimi »Heldenflucht« recherchierte Kilman intensiv über die Themen
Kriegstraumata und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, begab sich
an Kriegsschauplätze und las unzählige Feldpostbriefe dieser Zeit.« Und
dann registrierte ich die Tage zufällig, der Name Kilman sei so entstanden:
»Der Nachname sollte zu einem Thrillerautor passen, somit setzte ich »Kill«
und »Mann« zu Kilman zusammen.« …
Ein Krimi? Wo bitteschön? Historischer Roman? Na ja. Ich versuche, die
Essenz in einen Satz zu bekommen: Es geht um schreckliche Erlebnisse von
Soldaten des 1. Weltkriegs, die bei ihnen heftigste Kriegstraumata
hinterlassen haben, mit drastischen Folgen. Jeder dieser Soldaten lebt das
Trauma anders aus und drumherum wurde eine Geschichte konstruiert.
Dazu kommt die Not in allen Lebenslagen im Nachkriegsgeschehen,
Beschaffungsschwierigkeit des täglichen Lebens.
Wer ist der Hauptprotagonist? Keine Ahnung. Laut Klappentext soll es
Agnes sein, für mich eher eine unbedeutende Randfigur. In der Chefetage
tummelt sich viel Personal herum, das halbe Dorf, jeder ist gleich wichtig
oder ziemlich wichtig. Das Ganze führt natürlich dazu, dass die
Protagonisten extrem unausgegoren und flach daherkommen.
»›Du Taugenichts bist eine Schande für das ganze Dorf‹, keifte sie. … ›Sehr
wohl, gnädige Frau‹, sagte er, weil ihm nichts besseres einfiel und
Lieberstock ihm geraten hatte, nicht zu widersprechen. ›Die Menschen
wollen recht behalten‹, hatte er Franz erklärt …«
Franz war für mich tragend, aber ich konnte ihn nicht fassen. Er wird für
den Dorfdeppen gehalten, weil er komisch redet. Er interessiert sich für
eine Leiche, stochert drin herum, möchte den Verwesungsprozess
beobachten. Er gibt komische merkwürdige Antworten, scheint nicht ganz
dumm zu sein. Für einen Autisten war zu interessiert an den Menschen. Es
gibt eine »Krankheit«, bei der Menschen an Empathielosigkeit leiden. Das
passte am Anfang. Plötzlich benahm sich Franz aber wie ein normaler
Junge, zeigte viel Angst, Mitleid, wollte helfen, mischte sich ein, sogar so
etwas wie Verliebtheit kam durch. Zwischendurch fiel er immer wieder in
kurze Empathielosigkeit. Ich wurde nicht schlau daraus. Zum Ende wird er
auch noch … verrate ich nicht – passt für mich gar nicht.
Agnes Papen, eine Frau in Hosen, was nicht jedem gefällt. Franz bietet ihr
mitleidig an, bei anderen Frauen nachzufragen, ob eine einen Rock
überhätte. Käme ein Empathieloser darauf? Agnes arbeitete an der Front
als Kriegsberichterstatterin und nun erhält die Journalistin keinen Job
mehr, weil sie eine Frau ist, nicht mal als Sekretärin kommt sie unter. Sie
zieht in ihr Heimatdorf, nähe Cöln, um den Onkel zu pflegen. Ziemlich bald
bekommt die taffe Frau ein Angebot aus Cöln, bei einer Wochenzeitung zu
arbeiten, eine neue Art des Journalismus, Reisen, Reportagen. Sie ist
begeistert, denn sie will arbeiten, Karriere machen, liebt den Beruf,
konnte sich an der Front bei den Männern durchsetzen. Und diese Frau
lässt beim ersten Anflug des Verliebtseins die Karriere sausen um
Hausfrau und Mutter in einem Dorf zu werden, benimmt sich die ganze
Geschichte über wie eine brave, untertänige Frau? Und genau DIESE
Protagonistin soll die Hauptperson sein? Sie kommt kaum vor, trägt nichts
zur Sache bei (welche eigentlich?), und am Ende benimmt sie sich wie eine
zittrige Greisin: Null Gegenwehr, Null Nachdenken, denn sie ist ja angeblich
schlau, Null Gefühl für psychologische Feinheiten und natürlich muss sie
gerettet werden. Irgendwann ist der taffe Charakter zum Baubernweib
mutiert; obwohl, eine solche hätte mit dem Schürhaken zugeschlagen,
anstatt ihn sich wegnehmen zu lassen. - Du liest und staunst, welch
merkwürdige Verwandlungen in den Protagonisten vor sich gehen.
Ich will nicht alle detailliert aufzählen, aber die Protagonisten sind fast alle
nicht stimmig. Ruben Lieberstock ist der empathische Kaufmann im Dorf,
der sich um alles und jeden kümmert, er ist immer dabei, ihm vertrauen
alle, er hat eine Hauptrolle.
»Wiebke wich dem Klaps des alten Müllers aus, der ihrem Hinterteil
gegolten hatte.«
Wiebke, tragend, ist eine kräftige Magd, fleißig, unermüdlich und
unglücklich. Der alte Müller, Dorfvorsteher, grabscht alles an, was bei drei
nicht auf den Bäumen ist und seine Frau ist ein launisches Biest (tragende
Protagonistin), scheucht das Personal 20 Stunden am Tag. Der Sohn
Heinrich ist ein Tüftler, baut per Mühlrad Elektrizität für das Dorf, träumt
vom Bau eines Flugzeugs. Es gibt eine weitere Magd, sie bekommt einen
Jungen vom Müller.
»Der Staat musste nach den immensen Kriegsausgaben insolvent sein.
Jeder Kaufmann konnte das im Kopf überschlagen. Nein, sich auf den
Staat zu verlassen war keine Idee heutzutage.«
Herrmann der Arzt, gehört zu den Hauptpersonen. Er ist einer der
Kriegsveteranen. Seine Liebesgeschichte klingt für mich klischeehaft
konstruiert. Alle Kriegsheimkehrer sind psychisch am Ende. Zu ihnen
gehört auch Paul, der anfänglich für einen Franzosen gehalten wird und
anfangs stumm ist, unter einer Teilamnesie leidet, gehört auch zu den
tragenden Protagonisten. Es gäbe noch einige halbtragende, wichtige
Protagonisten.
Der Inhalt ist schwer zusammenzufassen: Das Dorfgeschehen nach dem
Krieg. Die anfänglich beschriebene Leiche wird von den Dorfbewohnern
erst auf den letzten Seiten gefunden, identifiziert. Wer der Mörder ist,
erfährt man nicht. Eine Person verlässt sein Heim, auch das wird nicht
aufgeklärt, weder warum, noch wohin. Oder habe ich das nicht kapiert?
Landet er in einem Keller? War er das?
Am Ende des Romans gibt es ein riesiges Massaker. Minikapitel, ein
Cliffhanger jagt den nächsten, es war mir derer zuviel, ebenso zuviel
Gemetzel, das war unglaubwürdig, sehr konstruiert. Der Roman beginnt
historisch, beschreibt die Schwierigkeiten, an wichtige Dinge des Lebens zu
kommen, Steckrüben mag keiner mehr sehen. Der Briefträger verteilt
Todesnachrichten, jeder hofft, der Kelch möge an ihm vorübergehen. Der
ein oder andere Mann kehrt aus dem Krieg zurück. Wir schreiben das Jahr
1918. Etwas verwirrend sind die Briefe aus dem Feld, von 1916 usw. die
zwischen die Kapitel gelegt werden. Ich habe mich bis zum Ende gefragt,
was diese Briefe, die nicht von oder an Protagonisten der Handlung
gesendet werden, mit der Story zu tun haben. Damit man etwas über den
Krieg erfährt? Dann hätte das Buch anders geschrieben werden müssen.
Die ist ein Geschichtskrimi, der nichts mit einem Krimi zu tun hat, es wird ja
auch nicht ermittelt. Diverse Verbrechen tauchen erst in den letzten Seiten
auf. Von der anfänglichen Leiche wissen nur Franz und die Leser etwas.
Dieser Roman entwickelt sich im Verlauf nicht passend dem Genre, denn im
letzten Viertel mutiert er zum absurden Thriller. Ab dieser Stelle mochte
ich das Buch nicht mehr, das mich zuvor noch angesprochen hatte. Der Plot
wird unmöglich: Massaker. Irgendwie fühlte ich mich wie hineingeworfen
vom Historischen in einen Fitzek: unglaubwürdig, effekthaschend,
blutrünstig. Hier brach der Spannungsautor durch. Und dann passierten
üble Schnitzer. Jemand schneidet mit einem Skalpell fachgerecht die
Bauchdecke auf, paar Seiten später sind es nur Kratzer. Ein Psychotiker ist
von einer Sekunde zur anderen normal, weiß, was er gerade angestellt
hat. Wie geht das? Am Ende passiert viel in Hetze, und die massigen
Stränge (müssen mehr als 10 sein) lösten sich nicht auf. Es folgt ein Epilog.
Hier werden fast alle Rätsel gelöst, im Galopp. Unverständlich, die Top-
Journalistin Agnes hat das schreckliche Dorf sofort verlassen und kehrt
nach Monaten kurz zurück. Erst jetzt will sie wissen, wie die Geschichte für
die Bösewichte endete? Wer soll das glauben? Der Abgabetermin drückte
den Autoren, und die Lösung wurde auf drei Seiten schnell
zusammenzimmert? So erschien es mir der Epilog.
Dabei sind ein paar Stränge vergessen worden und zwei lauteten lapidar:
Keiner weiß, wo er ist, bzw. sein Mörder wurde nie gefunden. Ein
sogenannter Krimi, prima abgesch(l)ossen! Nach dem Mörder wird nicht
gesucht und er wird deshalb auch nicht gefunden, logisch. Gleiches gilt für
einen anderen schrecklichen Verbrecher, der halt verschwunden ist. Ein
weiterer Protagonist ist tot. Und weiter? Einer Weiterer ist verschwunden.
Und? Der Vergewaltiger, was passiert mit dem? Ich war ziemlich
enttäuscht.
Alle Kriegsheimkehrer sind stark psychisch gestört, viele gemeingefährlich,
ein bisschen dick aufgetragen. Genau hier vermisse ich die Ernsthaftigkeit
zur Realität und die psychologische Auseinandersetzung mit
Kriegstraumata, die einem historischen Roman gebühren. So hätten die
Protagonisten auch Charakter bekommen. Man kann es sich auch einfach
machen: Massaker.
»Sie machte große Augen. ›Wirklich?‹«
Sprachlich einfach gestrickt, für meinen Geschmack an manchen Stellen zu
einfach. Bis Dreiviertel fand ich das Buch ok., spannend. Und dann war ich
nur noch genervt. Die eingeschobenen Feldbriefe gaben am Ende für mich
keinen Sinn, sie hatten nichts mit der Handlung zu tun. Wieder eine Frage
nicht beantwortet. Wer sich für Geschichte, kombiniert mit abstrusen
Gemetzel interessiert und nicht auf Einzelheiten achtet, der mag Gefallen
an dem Buch finden. Spannend ist es an sich und die Nachkriegszeit wird
gut dargestellt. Für mich war der Roman oberflächlich, weder Fisch noch
Fleisch.
Noch ein Wort zu Klappentext und Cover, dazu äußere ich mich selten.
Lieber Verlag, meine Zensur: setzen, Thema verfehlt! Cover: Ein
Großstadtbild. Die Geschichte spielt in einem kleinen, schlammigen Dorf!
Klappentext: Von welchem Buch reden wir hier? »Agnes beschließt, sich auf
die Suche nach der Wahrheit zu machen.« Sie sucht einen Mann, mehr
nicht, sucht nicht mal nach ihrem verschollenen Onkel, knutscht lieber.
Und welche Wahrheit soll sie finden? Es gibt im Grunde zig
Einzelgeschichten, die gar nicht zusammenhängen, nicht eine Wahrheit,
sondern eine ganze Reihe. Und die Journalistin interessiert sich rein gar
nicht dafür. Beschreibung: historischer Krimi. Dazu müsste es einen
Kriminalfall geben und einen Ermittler. Im Laufe der Geschichte geschehen
diverse Verbrechen. Aber eins hat mit dem anderen nichts zu tun und
niemand ermittelt.
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Rezension
Heldenflucht
von Jan Kilman