Autorin
Sabine Ibing
»Ins ›Eisenhüttenarchiv‹ lässt man mich nicht, obgleich ich das beruflich
brauche, ich muss ja für das Buch über die Dekabristen an der
Petrinischen Eisenhütte recherchieren. Allerdings ist dort sowieso
beinahe nichts mehr zu finden, denn der Wächter Puchow versoff die
Archivakten in der Schänke beim Turutanow oder verkaufte sie als
Hüllpapier an die Juden und an die Händler Podosjonow.«
Leningrader Künstlerzirkel, russische Schriftsteller, Oleg Jurjew
behauptet fiktiv, er sei in den Besitz einiger Briefe gekommen: nicht
abgeschickte Briefe des Schriftstellers Leonid Iwanowitsch Dobytschin
an den Literaturkritiker Kornei Iwanowitsch Tschukowski und die von
Iwan Pryschow an Dostojewski, ein Brief von Jakob Michael Reinhold
Lenz Nikolai Michailowitsch Karamsin.
»Die Maus Tischurilka-Sarnatsch! Was des Katzens Freud, das der
Mäuse Leid, nun zahlt der Kater den Preis fürs Mausen: Für den Betrug
mit der ›Befreiung der Leibeignen‹, für das Elend und die Erniedrigung
des russischen Volkes, für die Leiden der Vorkämpfer des Volksgücks,
die in die Gefängnisse und Zuchthäuser gesteckt wurden, für den
Strafgefangenen Iwan Pryschow, den man der Wissenschaft, dem
kultivierten Umgang entriss, der seine besten Lebensjahre in den
Kasematten verlor.«
Man muss vorsichtig sein in einem Land der Spitzel und trotzdem muss
manches gesagt werden. Aus den Briefeschreibern sprudeln die Worte
heraus. Der Schriftsteller Dobytschin schreibt verärgert, Sowchose
Schuscharen würde eine halbe Planstelle als Wirtschaftsstatistiker
besetzen. Das habe ihn in den Suizid getrieben. Bisher nahm man an,
der Leningrader Schriftstellerverbands habe ihn in den Tod getrieben,
der unter Stalin die Kreativität gegen Bürokratie eintauschte.
»Haha, Ihren ›Semjon Jakowlewitsch‹ aus dem Kapitel der ›Dämonen‹, in
dem eine Gesellschaft liberaler Ironiker den greisen Narren in Christo
besucht, hat der reiche Dostojewski ja beim armen Pryschow
ausgeliehen, aus seinem Buch über Iwan Jakowlewitsch Korejscha, dem
berühmtesten Moskauer Sonderling, Abgott aller Abergläubigen und
Tartüffe! Beklaut wie Leiche, sagt das russische Volk! Zwar ist Pryschow
beinahe eine Leiche, im sibirischen Grabe, doch immer noch beinahe!«
Schon 1859 machte der Wodkahandel in Russland 20 Prozent des inneren
Warenumsatzes und fast 46 Prozent der Staatseinnahmen aus. 1982
machte die Alkoholsteuer ein Drittel der Steuereinnahmen und ein
Drittel des gesamten Konsums aus. Iwan Pryschow hat über die
Entstehung der russischen Kaba, »Tinkhäuser« und die staatliche Pflicht
des Saufens ein Buch geschrieben, ein wichtiger russischer
Schriftsteller. Ich hatte etwas Mühe mit dem Buch. Mich interessiert
russische Literatur und ich kenne sicher einige Namen. Unzählige
russische Literaten werden in diesem Buch aufgezählt, Verhältnisse
gegeneinandergestellt. Es war mir zu müßig sie alle zu googeln, denn
das allein hätte mir zum Verständnis der Zankereien auch nicht
weitergeholfen.
Es wird über Gulags berichtet, über das Einfrieren der Gedanken und
es wird verdammt viel über Kollegen hergezogen. Neid unter
Schriftstellern. Kauzige Typen, Groteske, wer hat vom wem
abgeschrieben und wer hat wen in seinen Büchern karikiert? Allein,
dass man sich selbst im Roman des Kollegen wiederzuerkennen
vermag, zeigt anscheinend, wie berühmt und wichtig man ist. Diese
Stellen sind amüsant.
Rückblick in die russische Literatur, in die Vergangenheit des
Stalinismus, mit dem Spiegelbild der heutigen Gesellschaft der Angst.
Ein interessantes Buch, sicher. Aber richtig interessant wird es wohl nur
für die Leser, die sich ziemlich tief in der russischen Literatur
auskennen.
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