Autorin
Sabine Ibing
»Am nächsten Tag ging Louis zum Friseur in der Main Street, ließ sich
das Haar raspelkurz schneiden, zu einer Art Igelschnitt, und fragte
den Friseur, ob er seine Kunden auch rasiere. Der Friseur sagte ja,
und so ließ er sich obendrein eine Rasur verpassen. Dann ging er nach
Hause, rief Addie an und sagte: ›Ich würde gern heute Abend
vorbeikommen, wenn das noch gilt.‹ – ›Ja, es gilt‹, sagte sie.«
Addie und Louis, beide Anfang siebzig, verwitwet, sind Nachbarn aus
Parallelstraßen, wohnen je in einem Einfamilienhaus mit Garten. Man
kennt sich, aber gut befreundet ist man nicht. Addie war mit der
verstorbenen Frau von Louis befreundet, nachbarlich. Eines Tages
steht Addie vor Louis Tür, macht ein Angebot: Sie würde es angenehm
empfinden, wenn Louis bei ihr regelmäßig übernachten würde.
Zusammen etwas essen, einen Drink nehmen, reden, im Bett
nebeneinanderliegen, sich an den Hönden halten und einschlafen. Die
Nacht, das Dunkel, die Einsamkeit überstehen. Keinen Sex, meint Addie,
nur reden. Louis überlegt kurz und willigt ein.
Behutsam beginnen die Gespräche, und beiden gefällt die Zweisamkeit,
die sie auch auf Aktivitäten tagsüber ausweiten. Addie sagt, sie sei alt
genug, dass es ihr egal sei, was andere Leute über sie reden. Kurz
darauf ruft der Sohn von Addie an, seine Frau sei ausgezogen und er
wisse nicht, wie er, berufstätig, den Sohn betreuen soll. Ob Addie ihn
bis zur Einschulung nehmen könne. Und so beginnt eine feine Zeit zu
dritt, auch im Bett, denn der Enkel hat Angst allein. Louis kommt auf die
Idee, Jamie einen Hund zu besorgen. Fortan schläft der Junge in
seinem Zimmer, zusammen mit dem Hund. Louis kümmert sich rührend
um Jamie, das Trio fährt sogar zum Zelten in den Nationalpark, sie
gehen zu Baseballspielen, üben im Garten mit Handschuh und Schläger.
Der Junge vergisst fast sein Handy, hat das erste Mal Kontakt mit Sport
und Natur.
Manche Nachbarn des kleinen Kaffs in der Nähe von Denver finden es
cool, was sich die Alten trauen, andere finden das Benehmen
verwerflich. Der Sohn von Addie ist moralisch empört, letztendlich hat
er nur Angst, dass Louis scharf darauf ist, Addie zu heiraten, um das
Erbe anzutreten. Das hat Louis gar nicht nötig! Der Sohn verbietet
seiner Mutter den Umgang mit Louis, setzt sie mit Entzug des Enkels
unter Druck, sie dürfen nicht einmal mehr miteinander telefonieren.
Falls jemand eine kitschige Liebesgeschichte erwartet, den muss ich
enttäuschen. Kent Haruf schreibt mit Empathie, zeichnet seine Figuren
betörend scharf. Kleine Rückblicke mit Melancholie ins vergangene
Leben, das nicht immer so heile war, wie es nach außen wirkte, und der
banale Alltag von alten Menschen, die sich das Glück nehmen, das die
Intoleranz der Moral ihnen vorenthalten will, wird hier ausgebreitet.
Glücklich sein kann man nicht alleine. Ein Partner, mit dem man seine
Gedanken teilt, seine Erinnerungen, den man spürt in der Nacht,
händchenhaltend schlafen die beiden ein, friedvoll, nun ohne
Albträume. Ein Kammerspiel, ein Buch, das sicher als Theaterstück eine
große Wirkung erzielen würde.
Die Sprache ist reduziert, auf den Punkt gebracht. Es gibt kein
pathetisches Geschwafel. Genau das macht diesen kleinen Roman so
eindringlich. Eine Geschichte, die jeden Tag überall auf der Welt
passiert. Ein Appell gegen die Einsamkeit und für ein glückliches Leben
im Alter. Egoistische Kinder, die den Eltern die Einsamkeit verordnen,
kein »neues Elternteil« akzeptieren wollen. Neid auf das späte Glück
der Alten, Angst um das Erbe. Wenn du einsam bist, komm zu mir! Ein
Argument, das gerne verteilt wird. Nehmt das Angebot an, ihr Alten,
und geht den Kindern richtig auf den Keks! Vielleicht kapieren sie es
dann!
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Rezension
Unsere Seelen bei Nacht
von Kent Haruf
Gesprochen von: Ulrich Noethen
Spieldauer: 03 Std. 15 Min.
ungekürztes Hörbuch